Presseschau im November 2002 (Teil 4)

 

http://www.abendblatt.de/daten/2002/11/21/95068.html

Gremienflut: 28 Professoren weg
Vorwurf. Politiker kritisieren den unnötigen Wasserkopf der Hamburger Universitäten: Es gibt 500 Gremien an vier Lehranstalten

Von Christoph Rind

Die Zahl erschreckte selbst Insider. Zwar ist bekannt, dass die Hochschulen ihre Selbstverwaltung mit einer Vielzahl von Gremien und Ausschüssen organisieren, "aber einen solchen Wasserkopf könnte sich kein Unternehmen leisten", kritisiert der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Wolfgang Beuß (48). Knapp 500 Gremien gibt es an diesen vier Hochschulen: Universität, TU Harburg, Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP), Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW).

Die Hauptarbeit wird in acht Hochschul-Senaten geleistet. "Aber müssen sie 80 Ausschüsse haben?" fragt Beuß, der mit den Abgeordnetenkollegen Wieland Schinnenburg (44, FDP) und Christian Brandes (31, Schill-Partei) in einer Anfrage nach Details über die "Gremienarbeit der Hochschulangehörigen" gefragt hatte. Das üppige Angebot von 400 weiteren dezentralen Gremien (40 Fachbereichsräte und Dekanate, 360 Ausschüsse) zeige, "dass Verwaltung um der Verwaltung willen betrieben wird". Allein an der Uni tagen 45 zentrale Ausschüsse, Kommissionen und Beiräte, etwa der "Ausschuss zur Begleitung der Einführung der integrierten Standardsoftware SAP R/3", dazu 225 in den Fachbereichen. Die von Professoren, Hochschulbeschäftigten und Studenten besetzten Gremien werden wiederum verwaltet - vom "Referat Gremienbetreuung" mit drei Mitarbeitern, die "rund 123 000 Euro im Jahr kosten", hat Beuß ausgerechnet.
Auch die ehrenamtliche Arbeit verschlinge Millionen, meint Beuß. Denn laut Lehrverpflichtungsverordnung (LVVO) werden "Leitungsfunktionen in der Selbstverwaltung" belohnt mit "Ermäßigungen der Lehrverpflichtung". Auf Deutsch: Ein Professor im Hochschulsenat kann bis zu 25 Prozent seiner Seminar- und Vorlesungsstunden streichen. Zwar ist er an der Uni nur zu acht Wochenstunden verpflichtet, doch koste diese Regelung allein die Uni 28 Professorenstellen, sagt Beuß, das UKE nicht mitgerechnet.
"Ich kenne keinen Kollegen, der seine Lehrverpflichtung reduziert", sagt Betriebswirtschafts-Professor Karl-Werner Hansmann (58), Mitglied im Akademischen Senat und in drei Ausschüssen. Wie viele Unterrichtsstunden die Gremien-Professoren tatsächlich streichen als Ausgleich für ihre Arbeit, kann niemand genau sagen. Nur an der TU Harburg "herrscht eine besondere Kultur" in diesem Punkt, so TU-Vizepräsident Prof. Dr. Wolfgang Bauhofer (55). Dort werde "die gesetzlich zustehende Reduzierung der Lehrverpflichtung nicht wahrgenommen". Auch Prof. Dr.-Ing. Christian Nedeß (58) hat seine Vorlesung nicht gestrichen, als er im März 1999 das Präsidentenamt an der TU antrat.
"Die Größe des Verwaltungsaufkommens an der Universität entspricht der einer kleineren Stadt", sagt Uni-Präsident Jürgen Lüthje (61). Mit 40 000 Studenten, 10 000 Beschäftigten und 850 Professoren sei die Uni "einer der größten Arbeitgeber Hamburgs", so Uni-Sprecher Peter Wiegand (40). Der Hochschule bleibe kaum Spielraum, denn alle Einzelheiten der Gremienarbeit seien gesetzlich geregelt.
Was nicht festgelegt ist, wird dennoch registriert: Die Sitzungsdauer schwankt zwischen einer und vier Stunden. Der Uni-Senat (78 Mitglieder, jeweils mit Vertretung) plus Präsidium tagt jeden Monat bis zu sieben Stunden, der Ausschuss für Frauenförderung vierteljährlich 1,5 Stunden. Hinzu kommen "Vor- und Nachbereitungszeiten der Vorsitzenden der zentralen Gremien" von sieben Stunden für den Senat und eineinhalb bis zu drei Stunden für die Ausschüsse.
Das "Phänomen des totalen Ausuferns der Gremien", so Beuß, sei politisch ein Grund, "sich vehement für Reformen einzusetzen", wie das "Hochschulmodernisierungsgesetz" von Wissenschaftssenator Jörg Dräger (34). Dräger: "Es liegt in der Verantwortung der Hochschulen, effiziente Gremienstrukturen zu schaffen." Dazu soll die Strukturreform beitragen, deren Details bis Januar 2003 von der Kommission unter Leitung des Ex-Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi (74) ausgearbeitet werden. Für sie "musste von unserer Verwaltung viel Material zusammengestellt werden", sagt Uni-Sprecher Wiegand: "Diese Arbeit ist zusätzlich zur normalen Gremienarbeit angefallen."
erschienen am 21. Nov 2002 in Hamburg


http://www.abendblatt.de/daten/2002/11/21/95142.html
Und sie streiten immer noch
Schulpolitik. Rosemarie Raab und Ingeborg Knipper trafen sich wieder - mit vertauschten Rollen.
Von Peter Ulrich Meyer
Es war das Aufeinandertreffen zweier langjähriger Kontrahentinnen: Rosemarie Raab (56, SPD) als Schulsenatorin und Ingeborg Knipper (70, CDU) als kenntnisreiche Widersacherin der Opposition bestimmten die schulpolitische Debatte mehr als 15 Jahre.
Gemocht haben sich die beiden wohl nie, dazu sind ihre Positionen zu unterschiedlich, geachtet schon. Vor fünf Jahren verließ Knipper die Bürgerschaft, drei Jahre später trat Raab zurück.
Mehr als 300 Gäste waren auf Einladung des Elternvereins in die Gesamtschule Winterhude gekommen. Den besonderen Reiz erhielt der Auftritt der beiden Frauen aus der Tatsache, dass die Rollen von einst heute vertauscht sind: Knipper ist als Leiterin des Amtes für Schule Teil der Regierungs-Koalition, während Raabs SPD nun die Oppositionsbänke hütet.
Es ging um den neuen Schulgesetz-Entwurf der Bildungsbehörde. Die Sympathien des Gesamtschul-orientierten Publikums waren von Beginn an klar: Für Raab war die Diskussion ein Heimspiel, für Knipper eher ein Auftritt in der Höhle des Löwen.
"Uns geht es nicht um die Abschaffung von Integration, sondern um mehr Integration", versuchte Knipper für den Gesetzentwurf zu werben. Doch die Folge war nur Gelächter. Allen Zuhörern waren die vom Senat beschlossenen Kürzungen für die Gesamtschulen und das absehbare Aus für die integrierten Regelklassen präsent.
Raabs Kritik am neuen Senat war grundsätzlich. "Man kann von einem Schulgesetzentwurf erwarten, zu erfahren, welches Ziel er verfolgt", sagte die Ex-Senatorin. Es fehle aber an Konzepten, etwa für das verkürzte Abitur an Gymnasien. Der Entwurf sei nicht auf der Höhe der pädagogischen Debatte - ob beim Thema Integration, Notenzeugnisse oder Ordnungsmaßnahmen.
Etwas wohlfeil dann der Rat an die frühere Gegnerin: "Nutzen Sie die Chance zur Diskussion und versuchen Sie nicht, Ihre Politik gegen wissenschaftliche Erkenntnisse durchzusetzen!" Dafür gab es zwar viel Beifall. Wahr ist jedoch, dass Raab selbst früher vorgeworfen wurde, zu wenig mit den Betroffenen zu sprechen. Und die von Raab einst ausgerufene und jetzt eifrig beklatschte "empirische Wende" war noch vor wenigen Jahren bei dem selben Publikum auf heftige Kritik gestoßen. Bei den ersten Leistungstests hatten die Gesamtschulen schlecht abgeschnitten.
Nach dem PISA-Schock passt die Wissenschaft manchen jedoch wieder gut ins Konzept. Länder mit integrierten Schulsystemen zählen schließlich zu den Gewinnern. Überhaupt PISA: Wie ein roter Faden zog sich die internationale Studie durch die Diskussion.
Doch das Entsetzen über das schlechte Abschneiden Deutschlands hat nicht zu Selbstkritik geführt. Im Gegenteil: Die alten Grabenkämpfe werden fortgeführt, und sowohl Raab als auch Knipper pickten sich aus der PISA-Studie heraus, was zu ihren Positionen passt. Betonte Raab die Überlegenheit der Integration gegenüber frühzeitiger Auslese, blickte Knipper nach Bayern: Die dortigen Schüler des dreigliedrigen Schulsystems schnitten in Deutschland am besten ab. "Wir haben aneinander vorbeigeredet, weil wir unterschiedliche Menschenbilder haben", lautete das Fazit von Sabine Boeddinghaus vom Elternverein in Richtung Knipper. Mit Blick auf die PISA-Katastrophe heißt das eventuell auch: Ein Konsens für die dringend erforderlichen Konsequenzen ist nicht in Sicht.
erschienen am 21. Nov 2002 in Hamburg


http://www.abendblatt.de/daten/2002/11/21/95152.html
Neue katholische Schule
Das Gymnasium wird in Harburg eingerichtet

Hamburg wird zum nächsten Schuljahr ein neues katholisches Gymnasium erhalten. Der Vorstand des Verbandes der römisch-katholischen Kirchengemeinden hat gestern beschlossen, am Standort Julius-Ludowieg-Straße in Harburg zum 1. August 2003 zunächst zwei Gymnasialklassen einzurichten.
Die neue Schule für den gesamten Süderelbe-Raum ist die erste Neugründung eines katholischen Gymnasiums seit 50 Jahren. Die Sophie-Barat-Schule (gegründet 1952) und die Sankt-Ansgar-Schule (gegründet 1946) gehen auf Vorläufer aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus zurück.
"Wir entsprechen mit der Neugründung einem Wunsch vieler Eltern aus dem Süden Hamburgs", sagte Reiner Schmitz, Leiter des Schulamts des katholischen Kirchenverbandes. Bei einer Elternbefragung hatten die Väter und Mütter von 90 Kindern ihr Interesse bekundet. Mit einem Platz können jetzt die 64 Jungen und Mädchen rechnen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gymnasial-Empfehlung von der Grundschule erhalten.
Der Start für das neue Gymnasium soll in nicht genutzten Räumen der katholischen Haupt- und Realschulen an der Julius-Ludowieg-Straße erfolgen. Außerdem ist es gelungen, ein geeignetes Nachbargebäude anzumieten. Der Verband wird auf dem Areal ein weiteres Grundstück kaufen, auf dem voraussichtlich in fünf Jahren eine Turnhalle errichtet werden soll.
In den ersten Jahren nach der Gründung soll das neue Harburger Gymnasium als Zweigstelle vermutlich der Sophie-Barat-Schule geführt werden. pum

erschienen am 21. Nov 2002 in Hamburg



http://www.mopo.de/nachrichten/101_17464.html
Berufsschulen | 21.11.2002
CDU pfeift Handelskammer zurück
Kurskorrektur bei Berufsschulplänen / GEW-Protest vorm Rathaus
"Die Hamburger Berufsschulen müssen Teil des staatlichen Bildungssystems bleiben", fordert die GEW-Chefin Stephanie Odenwald. Im Einsatz gegen die Privatisierung dieser Schulform bekommt die Gewerkschaft Schützenhilfe von unerwarteter Seite: Der CDU-Bildungsexperte Wolfgang Drews weist jetzt deutlich Begehrlichkeiten der Handelskammer in ihre Schranken. Mit Rückendeckung vieler Bildungsfachleute seiner Partei. "Niemand braucht sich Sorgen zu machen, dass es eine Komplett-Übernahme der Berufsschulen durch die Handelskammer gibt", so Drews. Der Staat dürfe sich nicht aus der Aufsicht über die Schulen zurückziehen. Drews weist damit Forderungen der Kammer zurück. Sie will, "dass die Wirtschaft die Hauptverantwortung für das duale System trägt." Waren alle Befürchtungen also aus der Luft gegriffen? "Verstehen Sie dies als Korrektur von Altaussagen aus Jesteburg und auch des Koalitionsvertrags", kommentiert Drews selbstsicher.
Die Forderungen des jungen Bankers: Berufsschulen dürfen nicht zu Mammut-Einrichtungen mit 4000 Schülern werden. Zudem müssen regionale Besonderheiten berücksichtigt werden, es dürfe kein Stadtteil ausbluten, weil ihm die Berufsschule weggenommen werde und bestehende Kooperationen mit Firmen müssten erhalten bleiben. Aber wo Lernort-Kooperation optimiert werden kann, "sind Zusammenlegungen sinnvoll". Für die Trägerschaft fordert Drews, dass die Entscheidungsgewalt beim Staat bleibt. Aber Verbände, Betriebe – und rotierend auch die Kammern müssten in Beiräten oder Kuratorien eingebunden werden: "Für ein partnerschaftliches Miteinander."
Die GEW ruft heute um 15 Uhr zu einer Protestversammlung (Jungfernstieg) gegen die befürchtete Privatisierung von Berufsschulen auf. Um 16 Uhr werden Unterschriftenlisten im Rathaus übergeben. (san)


http://www.taz.de/pt/2002/11/21/a0277.nf/text
Später Applaus
Schulsenatorin a. D. gegen Amtsleiterin von heute: Rosemarie Raab diskutierte mit Ingeborg Knipper
So ändern sich die Zeiten: Als Rosemarie Raab (SPD) noch Schulsenatorin war, provozierte ihre Politik 1998 die längste Demo aller Zeiten. Als sie Dienstagabend als Kontrahentin der heutigen Leiterin des Amtes für Schule, Ingeborg Knipper (CDU), über das neue Schulgesetz diskutierte, erntete sie tosenden Applaus.
Der Elternverein hatte geladen, gekommen waren mehr Menschen, als die Aula der Gesamtschule Winterhude Stühle fasste. Die Schulsenatorin a. D. machte klar, dass sie zwar nicht mehr im Dienst, aber immer noch mitten im Thema ist. Sie kritisierte, dass der Entwurf wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriere, beispielsweise zu Noten und Berichtszeugnissen, aber auch zu integrierten Regelklassen. Der Entwurf sei mit heißer Nadel gestrickt und ohne breite Diskussion zustande gekommen. Rosemarie Raab prognostizierte, das neue Gesetz werde weitere Entmischung zur Folge haben, und die Verschärfung der Auslese keinerlei Leistungssteigerungen bewirken.
Fast wehmütig sagte sie: "Ich hätte mich gefreut, so eine Studie wie PISA im Rücken zu haben" und wünscht sich von Knipper, die Chance für Veränderungen zu nutzen, denkt dabei aber in eine andere Richtung als die. Raab fordert, "wenigstens in Grundschulen das Sitzenbleiben abzuschaffen" und ist damit auch ihrer Partei voraus. Doch für die, das betont sie ausdrücklich, spreche sie an diesem Abend ohnehin nicht.
Lehrer und Eltern beklagten sich bitterlich über Stundenausfall an den Schulen - wofür Knipper den Erkältungsmonat November als zuständig erklärte, sie sorgten sich um integrative Regelklassen - die Knipper als Regelmodell für nicht finanzierbar hält. Am Ende warf Elternvereinsvorsitzende Sabine Boeddinghaus der Amtsleiterin eine Politik vor, "die Kinder am liebsten schon kurz nach der Entbindung mit Schnullern kennzeichnen würde, auf denen Hauptschule, Realschule oder Gymnasium steht". Das mache ihr Angst, das treibe die Eltern um. "Darum bitte ich Sie, reden Sie mit den Menschen vor Ort, machen sie keine Politik des demokratischen Minimalismus." san
taz Hamburg Nr. 6910 vom 21.11.2002, Seite 22, 71 TAZ-Bericht san


http://www.taz.de/pt/2002/11/21/a0276.nf/text
Ohne Oma kein Geld
Arbeitsamt kritisiert Kita-System. Jugendämter warten auf Formulare. Dienstanweisung legt Fristen für Kinder nichtberufstätiger Eltern fest
von KAIJA KUTTER
Das Hamburger Arbeitsamt hat die im Kita-Gutscheinsystem geplante Ausgrenzung von Arbeitslosen als "äußerst unglücklich" kritisiert. Sprecher Manfred Klostermann: "Das ist im Sinne eines funktionierenden Arbeitsmarktes nicht förderlich und wird zur Vermehrung von Langzeitarbeitslosen führen." Wie berichtet, sollen Eltern, die ihren Job verlieren, den Kita-Platz räumen. Lediglich 3- bis 6-jährige Kinder behalten einen 4-Stunden-Gutschein.
Wollen Eltern aber Arbeitslosengeld beziehen, müssen sie laut Sozialgesetzbuch (SGB) III dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Wer wegen seiner Kinder gar nicht oder nur teilweise arbeiten kann, bekommt gar kein oder weniger Arbeitslosengeld - egal, wie viel er vorher eingezahlt hat.
"Es kann nicht sein, dass Eltern hier Geldansprüche verlieren", sagt die Mitarbeiterin eines der bezirklichen Jugendämter, die sich hinter den Kulissen für eine Regelung zwischen Stadt und Arbeitsamt stark machten. Doch im Amt für Kindertagesbetreuung sah man dies offenbar gelassen. Das SGB schreibt nämlich keine staatliche Betreuung vor, eine private tut's auch.
Indes plant das Amt ein kleines Zugeständnis. Arbeitslose, die schon mal einen Kita-Platz hatten, bekommen sofort einen neuen Gutschein, wenn sie wieder Arbeit finden. "Das ist keine Garantie für den alten Platz", räumt der stellvertretende Kita-Amtsleiter Bernd Heinrich aber ein. Um diesen zu suchen und das Kind wieder einzugewöhnen, können Wochen verstreichen.
"Ein Kita-Platz muss sofort gewährleistet sein, sonst gilt die Person nicht als verfügbar", sagt dagegen Manfred Klostermann. Bräuchten die Eltern Zeit für die Kita-Suche, müsste für den Übergang eine private Betreuung beispielsweise durch die Oma gewährleistet sein. Klostermann: "Die Regelung wird Arbeitsaufnahmen vereiteln."
Derweil laufen in den Bezirken die Telefone heiß, weil Senator Rudolf Lange am Dienstag die Eltern aufforderte, sich jetzt schon anzumelden. Es fehlen zwar noch die nötigen Formulare, aber dennoch werden Anträge von Eltern angenommen, die binnen der nächsten zwölf Monate einen Krippen-, Hort- oder Elementar-Kita-Platz haben wollen. Eltern von Kita-Kindern, die im Sommer zur Schule kommen und einen Hortplatz brauchen, haben übrigens Vorrang auf der Hort-Liste. Stellen sie einen Antrag, zählen die Jahre, die ihr Kind bereits in der Kita war, als Wartezeit mit. Dies gilt nur für 5- bis 8-Stundenplätze, nicht für Halbtagskindergärten.
Dies geht aus einer "Dienstanweisung" hervor, die der taz hamburg vorliegt. Wie berichtet, werden mit dem Gutscheinsystem alle Kinder mit "nachrangigen Bedarfslagen" (Arbeitssuche, sonstiger sozialer Bedarf), ihren Anspruch verlieren. Die Dienstanweisung sagt nun, wie dies geschieht.
Die Schonfrist: Generell gilt eine Übergangsfrist von zwölf Monaten ab dem letzten Bewilligungsbeginn vor dem Systemwechsel. Günstigstenfalls könnte dies vom 31. Juli 2003 bis zum 31. Juli 2004 gelten. Der größte Teil der Plätze wurde jedoch gerade erst bewilligt und bis zum 31. 7. 2003 befristet. Die Schonfrist gilt also allenfalls für zwei bis drei Monate im Herbst 2003.
Krippe (0-3 Jahre): Kinder, deren Eltern Erziehungsurlaub nehmen, dürfen auf einem 6-Stunden-Platz bleiben, sofern sie zweieinviertel Jahr und älter sind. Die Plätze aller anderen Kinder mit "nachrangigem Bedarf" werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten bis zum Juli 2004 auf sechs Stunden gesenkt.
Elementarkinder (3-6 Jahre): Nach Ablauf der Übergangsfrist am 31. Juli 2004 kommen ausschließlich die neuen Kriterien zur Anwendung. "Nachrangige Bedarfslagen" werden auf vier Stunden reduziert.
Hort (6 - 12 Jahre): Bis Ende der Übergangsfrist gibt es zwei- und dreistündige Hortplätze für "Nachrangige", danach nicht mehr.
Die Dienstanweisung enthält übrigens einen Hoffnungsschimmer für Arbeitslose und MigrantInnen. Sofern sie sich weiterqualifizieren oder einen Sprachkurs belegen, sind sie Berufstätigen gleichgestellt.
taz Hamburg Nr. 6910 vom 21.11.2002, Seite 22, 136 TAZ-Bericht KAIJA KUTTER


http://www.taz.de/pt/2002/11/21/a0275.nf/text
Hamburgs Mitte nicht jugendfrei
Bezirksamt plant Kahlschlag in St. Paulis Jugendarbeit: Sieben Stellen sollen gestrichen werden. Abenteuerspielplatz, Nachbarschaftsheim, Café Online, Haus der Jugend, Straßensozialarbeit: Statistik erklärt die Kids für weniger bedürftig
von SANDRA WILSDORF

Vorgestern hatten die Mitarbeiter des Abenteuerspielplatzes am Brunnenhof auf St. Pauli Besuch: Eine Mitarbeiterin des Jugendamts im Bezirk Mitte überbrachte die Botschaft, dass ihre Behörde dem Jugendhilfeausschuss vorschlagen würde, die Stelle für Suchtprävention des Vereins zum 1. Januar zu streichen. Die Jugendtagesstätte des Nachbarschaftsheims St. Pauli Süd bekam keinen Besuch - stattdessen wurde der Vereinsvorstand in die Behörde bestellt. Die Nachricht war die gleiche: Eine von vier Stellen soll wegfallen - die für Suchtprävention. Insgesamt will der Bezirk in der Jugendarbeit acht Stellen streichen, sieben davon in St. Pauli, eine in St. Georg.
So muss auch das Haus der Jugend in St. Pauli dran glauben: Eine freie Stelle soll nicht wieder besetzt werden, das Café Online soll zwei Stellen verlieren und muss wohl den Betrieb einstellen, und die zwei Stellen für Straßensozialarbeit, die schon seit längerem nicht besetzt wurden, sollen nun endgültig gestrichen werden.
"Der Sparhammer schlägt voll zu", sagt Sorina Weiland, Sprecherin des Bezirksamts Mitte. Eine fachliche Begründung für die Kürzungen gibt es nicht. Nur: "Mitte muss an andere Bezirke abgeben." Und warum gerade St. Pauli? "Ich nehme an, dass das vergleichsweise am besten ausgestattet war." Außerdem lebten dort weniger Jugendliche als beispielsweise in Wandsbek.
Volker Vödisch vom Abenteuerspielplatz erzählt von der Wirklichkeit "unserer Kinder", von denen täglich etwa 75 auf den Spielplatz kommen: "Über die Hälfte sind Sinti und Roma, für sehr viele Kinder sind wir die einzigen Bezugspersonen." Oft müssen die Kinder für die Eltern Behördengänge und Schriftverkehr übernehmen, weil diese Analphabeten sind. "Viele Eltern sind alkoholkrank", sagt Vödischs Kollege Armin Homburg, dessen Stelle gestrichen werden soll. Um den Kindern dieses Schicksal zu ersparen, arbeiten die Mitarbeiter suchtpräventiv - auf dem Spielplatz, aber auch in Schulen. Bisher.
Die Jugendtagesstätte des Nachbarschaftsvereins ist seit zehn Jahren sieben Tage die Woche geöffnet, von 14 bis 22 Uhr. Hier treffen sich täglich etwa 100 Kinder und Jugendliche. Die Behörde verlangt von den Mitarbeitern, ihr Konzept komplett zu ändern: Jugendliche über 18 sollen keinen Zutritt mehr haben, "die sollen wir an die Schuldnerberatungsstelle oder an das ,Stay Alive' verweisen", sagt Irmgard Frehland von der Jugendtagesstätte. Das "Stay Alive" berät Drogenabhängige in Fragen des Lebens, und auch die Schuldnerberatung ist nicht gerade ein Platz, an dem Jugendliche einfach sein können. Das Nachbarschaftsheim soll sich künftig um die "Förderung von Begabungsreserven" kümmern: In festen Gruppen sollen Jugendliche beispielsweise töpfern und sich auf das Berufsleben vorbereiten. Mitten in diese Neustrukturierung platzt jetzt die Nachricht von der Stellenkürzung.
taz Hamburg Nr. 6910 vom 21.11.2002, Seite 21, 98 TAZ-Bericht SANDRA WILSDORF


http://www.taz.de/pt/2002/11/21/a0072.nf/text
in kürze

NORDRHEIN-WESTFALEN
Studiengebühren ade
Die nordrhein-westfälische Landesregierung lässt ihren Plan fallen, zum Sommersemester 2003 Studiengebühren für Langzeitstudenten einzuführen. Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) begründete dies gestern mit verfassungsrechtlichen Bedenken. (dpa)
taz Nr. 6910 vom 21.11.2002, Seite 8, 12 Zeilen (Agentur)


http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel3542.php
Die Lust am Lesen lernen

Hätte die Bundesbildungsministerin mit ihrer Rede zu Beginn der OECD-Tagung am Montag in Berlin gewartet, so hätte sie konkreter sprechen können. Stattdessen wiederholte Edelgard Bulmahn (SPD) nur, was sie bereits seit Monaten sagt. Dass nämlich Deutschland nach der PISA-Blamage einen "Spitzenplatz" anstrebe, dass man Kinder früher fördern, Lehrer besser ausbilden und mehr Ganztagsschulen schaffen wolle. Dabei hätte Bulmahn sich am Dienstag handfeste Rezepte holen können. Die Experten der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) zeigten mit ihrer bildungspolitischen Analyse der PISA-Studie einige Schwachpunkte auf und machten zugleich konkrete Vorschläge für Verbesserungen.
Spaß bedeutet gute Noten
So schneiden insbesondere jene Schüler besser ab, die größere Freude am Lesen und Spaß an der Schule haben. Doch ausgerechnet deutsche Kinder liegen mit ihrer Leselust am unteren Ende der internationalen Skala. Deshalb schlagen die OECD-Fachleute vor, vor allem die Freude an Büchern zu fördern, da die Lesekompetenz sich auf die Schulleistungen insgesamt auswirke.
Für die Noten ist der Spaß am Lesen und Lernen sogar entscheidender als die soziale Herkunft und kann deren negativen Einfluss wettmachen. Dieser ist in Deutschland sehr ausgeprägt. Doch auch andere Faktoren sind wichtig, wobei gutes Schulklima und Leistungsanforderungen kein Gegensatz sein müssen: "Schüler und Schulen können in einem Klima, das geprägt ist von hohen Erwartungen und der Bereitschaft, sich anzustrengen, von Freude am Lernen, Disziplin und einem guten Lehrer-Schüler-Verhältnis Besseres leisten", resümiert der Bericht.
Ungünstig wirkt sich in Deutschland der feste Griff der Bürokratie aus: Schulleiter haben praktisch keinen Einfluss auf die Lehrerauswahl und das Budget. Dabei schneiden gerade jene Länder bei PISA gut ab, die ihren Schulen Freiheit gewähren. Zugleich widerlegt die OECD-Analyse das Vorurteil, dass Autonomie die Unterschiede zwischen den Schulen verschärfe: In Deutschland sind diese Leistungsdifferenzen besonders groß.
Deutsche Lehrer zu alt
Alarm schlagen die OECD-Bildungsexperten beim Thema Lehrerversorgung. Vor allem die deutschen Pädagogen sind mit einem Anteil von 49 Prozent an über 50-Jährigen überaltert. Immerhin 15 Prozent der deutschen Schulleiter meinen, dass der Mangel an Lehrern oder deren fachfremder Einsatz den Unterricht in den Naturwissenschaften "etwas" oder "sehr" beeinträchtigen. Wenn auch die hiesigen Lehrer gut bezahlt werden, so sank in den letzten Jahren ihr Gehalt – wie in den meisten OECD-Ländern – im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt. Der Lehrerberuf müsse wieder attraktiver werden, sagen die Experten. Sie schlagen mehr Geld, aber auch bessere Arbeitsbedingungen, etwa in Form kleinerer Klassen, vor. In einem Punkt dürfte das OECD-Papier tröstlich für Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn und ihre Länderkollegen sein: Es gibt, so ist zu lesen, auch Staaten wie Finnland und Korea, die mit geringeren finanziellen Mitteln als Deutschland bessere Leistungen an ihren Schulen erzielen.
Jeanne Rubner



http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel3579.php


Eins plus eins gleich ...?
Zur Eröffnung des "Mathematikum" in Gießen, dem ersten Mitmach-Museum für Kopfrechner
"Das ist aber niedlich!" kommt einem als zweiter Gedanke in den Sinn, nachdem man gerade mal fünf Minuten braucht, um alle Räume des neuen Mathematikmuseums in Gießen zu durchlaufen und sich einen Überblick über die 50 Ausstellungsstücke zu verschaffen. Das historische Arresthaus der Stadt – im Hof fanden in früheren Jahrhunderten Hinrichtungen statt – wurde in den vergangenen Monaten renoviert und um einen repräsentativen Eingangsbereich erweitert. Von außen wirkt das Gebäude, leicht erhöht im Bahnhofsviertel, wie eine Trutzburg für die Mathematik, die unnahbare Göttin der Wissenschaften – das ist der erste Gedanke –, von innen doch eher wie ein skandinavischer Kindergarten: funktionale Möbel in übersichtlichen Räumen, hier und da eine Bastelecke mit ökologischem Holzspielzeug.
Skandinavischer Kindergarten
Das "Mathematikum", das gestern von Bundespräsident Rau eröffnet wurde, darf ganz unbescheiden als Großereignis in der deutschen Museumslandschaft betrachtet werden. Nicht nur, dass in einer Zeit extremer Einsparungen in den Kulturetats überhaupt ein neues Museum gegründet wird. Es ist das erste "Mitmachmuseum" für Mathematik überhaupt. Angelehnt an das Konzept der "Science Center", stellt dieses Museum ausschließlich Dinge aus, die den Besucher zur aktiven Beschäftigung einladen – Berühren ausdrücklich erlaubt.
Die Gründung des Mathematikums verdankt sich fast ausschließlich der Initative einer einzigen Person: Albrecht Beutelspacher, Mathematikprofessor an der Universität Gießen, der auch viele Privatmittel in das Projekt gesteckt hat, unter anderem das Geld des Communicator-Preises, der ihm im Jahr 2000 für seine Verdienste um die Vermittlung der Mathematik verliehen wurde. Seit acht Jahren organisiert Beutelspacher Wanderausstellungen über "Mathematik zum Anfassen", die mittlerweile über 500000 Besucher gesehen haben. Schon deshalb lässt sich der durchschlagende Erfolg des neuen> Spekulation vorhersagen. 60000 Besucher pro Jahr benötigt das Museum, um schwarze Zahlen zu erreichen. Allein schon durch Klassenfahrten von hessischen Schulen lässt sich mehr erwarten. Warum, muss man sich fragen, wird hier Bildung zum Publikumserfolg, noch dazu in der als trocken und weltfremd verschrieenen Mathematik, während anderenorts PISAgeschockte Politiker nur Verfall und Desinteresse vorfinden? Darum: Die Exponate befriedigen ein weit verbreitetes Bedürfnis, das die bestehenden Bildungseinrichtungen eher stiefmütterlich behandeln.
Vielleicht ist das die Erklärung: Trotz der allgegenwärtigen technologischen Spielzeuge und Computer wachsen heutige Großstadtkinder in trauriger Erfahrungsarmut auf, was ihr mathematisches Denkens betrifft. Überall werden sie mit den fertigen Produkten der High-Tech-Ingenieure überhäuft, in den Schulen pauken sie die fertigen Theorien der großen Genies aus der Vergangenheit – was fehlt, ist das Rätsel, die Überraschung, die Entdeckung, dass jeder mit der eigenen Kreativität Großes entdecken kann. Auch hinter den Monumenten alter Bildung stehen schließlich Menschen, die sich durch die Fähigkeit ausgezeichnet haben mögen, im Alltäglichen das Rätselhafte entdecken zu können.
Eines der Ausstellungsstücke ist ein gewöhnlicher Spiegel, der drehbar an der Wand befestigt ist. Wenn man ihn um die Achse dreht, passiert gar nichts; das Spiegelbild bleibt das Gleiche. Im Spiegelbild sind rechts und links vertauscht. Rechts neben diesem ist ein zweiter Spiegel angebracht, ein Doppelspiegel, der aus zwei spitzwinklig gekippten Hälften besteht. Wenn man in diesen hineinschaut, sieht man sich zwar gespiegelt, nur sind hier rechts und links nicht vertauscht. Dreht man ihn außerdem noch, sieht man sich auf den Kopf gestellt. Der Spiegel, das unbekannte Wesen.
Das Mathematikum macht es offensichtlich: Mathematik ist eine Erfahrungswissenschaft. Lehrer und Universitätsprofessoren können endlos über die Theorie der Symmetriegruppentransformationen dozieren; wenn der elementare Erfahrungsschatz im Umgang mit dem tieferen Rätseln eines Badezimmerspiegel fehlt, wird das Publikum voraussehbar dabei in unschuldiger Ignoranz einschlafen. Die Tafel, die neben den spielerischen Spiegelexperimenten eine kurze Einführung in die Algebra der Symmetriegruppen liefern würde, hat man allerdings absichtlich im Mathematikum weggelassen. Lag es an der alten Angst, dass jede mathematische Formel, wie Stephen Hawking einmal sagte, die Leserzahl halbiert? Oder wollte man einfach den Besuchern noch ein paar großartige Aha-Erlebnisse für den traditionellen Mathematikunterricht aufsparen?
Leonardo zeigt, wie’s geht
Mathematisch gesehen ist keines der Ausstellungsstücke Kinderkram, auch ein lustiges Spiel mit Seifenblasen nicht, das in vielen Variationen ausgestellt ist. Weiter: Lässt sich ein Graben überbrücken, wenn man als Baumaterial nur Bretter hat, die kürzer sind als die Schlucht lang ist – dafür aber weder Nägel, Seile noch Leim? Leonardo da Vinci hat gezeigt, wie’s geht, und der Trick ist auch für professionelle Mathematiker nicht leicht zu entdecken.
Im Nachbarhaus des neuen Mathematikums ist das altehrwürdige Liebig- Museum untergebracht. Das Originallabor des großen Chemikers wird dort gezeigt, mit allen historischen Geräten, die Justus Liebig größtenteils selbst herstellen musste für seine revolutionären Experimente. Heute ehrt man sie als Devotionalien. Vielleicht werden die selbstgebauten Mitmach-Exponate von Albrecht Beutelspacher eines Tages auch ein traditionelles Anschau-Museum für die Geschichte der Pädagogik füllen.
Schöner wäre es, wenn eines Tages viele neue Museen nach Art des Liebig-Museums entstehen, wo das spätere Lebenswerk von Forschern ausgestellt wird, die sich durch Beutelspachers Mathematikum haben inspirieren lassen, selber auf Entdeckungsreise nach neuen Rätseln und Experimenten zu gehen. ULRICH KÜHNE

www.mathematikum.de . Tel. (0641) 969 79 70. Täglich bis 18, Donnerstags bis 20 Uhr. Eintritt 5, ermäßigt 3 Euro. Begleitbuch, 160 Seiten, 15 Euro.


http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel3731.php

Lehrerbildung nach PISA
In Tutzing beraten Experten über den Unterricht der Zukunft

Von Christine Burtscheidt

München – Immer wenn eine Studie deutschen Schülern schlechte Noten gibt – und davon gab es in den letzten fünf Jahren genügend – sind es die Lehrer, auf die erst einmal alle Kritik niederprasselt. Dagegen wehren sie sich vehement. Doch ganz ungerechtfertigt sind die Angriffe nicht. Denn Schüler können nun einmal nur so gut wie ihre Lehrer sein. Dreh- und Angelpunkt einer zukunftsweisenden Bildungsreform, das wissen inzwischen alle Kultusminister der Länder, muss daher die Lehrerbildung sein.

"Lehrerbildung nach PISA" heißt eine Tagung in der Evangelischen Akademie in Tutzing, die der Frage nachgeht, wie es um die Entwicklung der pädagogischen Aus- und Fortbildung steht. Auf Einladung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, des Verbands Bildung und Erziehung und der Evangelischen Akademie Tutzing beleuchten von heute an zwei Tage lang Experten aus Schule und Hochschule das Terrain. Auch drei Bundesländer präsentieren ihre "Innovationen": Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Bayern.
Tatsächlich ist im Freistaat einiges in der Lehrerbildung geschehen, seit sich erstmals vor vier Jahren ein Arbeitskreis der CSU des Themas annahm. Inzwischen liegt eine völlig neu überarbeitete Lehramtsprüfungsordnung I. vor, die von diesem Schuljahr an bereits gültig ist. Das neue Rezept im Studium heißt "Praxisnähe". Auch wird bei der künftigen Lehrergeneration mehr Wert auf pädagogische und psychologische Fähigkeiten gelegt. Konkret müssen die so genannten Lehramtsanwärter nun schon vor ihrem Studium ein Orientierungspraktikum in einer Schule ablegen, um rechtzeitig festzustellen, ob sie überhaupt geeignet sind. Zudem wird während des Studiums ein Betriebspraktikum in einer anderen Berufssparte abverlangt. "Wir wollen damit den viel kritisierten Kreislauf des Lehrers durchbrechen, der von der Schule an die Hochschule und wieder an die Schule geht", sagt der Amtschef im Kultusministerium, Josef Erhard. Darüber hinaus stehen mehr Stunden in Psychologie und Pädagogik auf dem Wochenlehrplan.
Im Gegensatz zu Ländern wie Rheinland-Pfalz hat der Freistaat jedoch an der Struktur des Studiums nichts geändert. Noch immer gibt es in Bayern zwei Staatsexamen und dazwischen ein zweijähriges Referendariat. Man habe sich an den Empfehlungen der Kommission der Kultusministerkonferenz zur Lehrerbildung orientiert, sagt Erhard. Diese hätten von Strukturreformen abgeraten; also etwa einem konsekutiven Aufbau des Studiums, der erst in einen allgemein berufsbezogenen Abschluss mündet und sich dann auf die Lehrerausbildung spezialisiert. "In der kurzen Zeit wäre es nicht möglich, zwei Fächer vertieft und die beiden berufsqualifizierenden Wissenschaften Psychologie und Pädagogik zu studieren", erklärt Erhard.
Verworfen ist auch die Idee des Rats des Wissenschaftsministeriums, in Bayern die Lehramtsstudiengänge wieder an eigenen pädagogischen Hochschulen zusammenzufassen. "Zu teuer und organisatorisch völlig illusorisch" sagt Erhard. Stattdessen setzt man auf Zentren für Lehrerbildung, was bereits an einzelnen Hochschulen erprobt wird. Generell ist ein engerer Austausch zwischen Professoren und Lehrern gewünscht. Das soll vor allem Gegenstand der Neuabfassung der Lehramtsprüfungsordnung II werden. Ebenso das Referendariat, denn: "Lehrer müssen künftig mehr auf Team- und Kommunikationsfähigkeit trainiert werden", sagt Erhard.



http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel3650.php

Studiengebühren offenbar vom Tisch
Koalitionsstreit wegen Langzeit-Studenten
Steinbrück wollte Kontenmodell schneller und mit kürzeren Zeiten einführen als die Grünen

Von Kristian Frigelj
und Andreas Theyssen
Düsseldorf – Der Plan, Studiengebühren für Langzeitstudenten einzuführen, scheint endgültig vom Tisch zu sein. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung enthält der Entwurf der Regierungserklärung, die Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) am heutigen Mittwoch im Landtag abgeben wird, diese Forderung nicht mehr. Stattdessen soll das vom grünen Koalitionspartner favorisierte Studienkontenmodell eingeführt werden. Da Steinbrück jedoch bei für die Grünen entscheidenden Details Änderungen vornehmen wollte, trafen sich der Regierungschef und Wissenschaftsministerin Hannelore Kraft (SPD) am Dienstagabend mit dem grünen Minister Michael Vesper und dem Landeschef der Partei, Frithjof Schmidt, zum Krisengespräch.
Umstritten waren bei dem Gespräch, das bei Redaktionsschluss noch andauerte, vor allem zwei Punkte. Zum einen wollte Steinbrück das Studienkontenmodell bereits zum Sommersemester 2003 einführen. Dieser Termin erscheint den Grünen indes verfrüht. Der Grund: In einem Gutachten des Frankfurter Verwaltungsrechtlers Georg Hermes, das die Fraktion in Auftrag gegeben hatte, ist die Rede davon, dass Studenten mindestens zwei Semester lang Vertrauensschutz genießen, bevor eine neue Regelung in Kraft treten kann. "Wir sollten das Modell erst zum Sommersemester 2004 einführen, dann wären wir rechtlich auf der ganz sicheren Seite", sagte die hochschulpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Ruth Seidl.
Der zweite strittige Punkt ist die Frage, ab wann Langzeitstudenten beim Studienkontenmodell Gebühren zahlen müssen. Die Grünen hatten ursprünglich verlangt, dass die doppelte Regelstudienzeit die Grenze bilde. Steinbrück wollte nach SZ-Informationen schon ab der 1,25-fachen Regelstudienzeit Gebühren kassieren. Die Grünen sahen darin eine unakzeptable Vorgabe. "Für uns ist ganz wesentlich, dass das Studienkontenmodell nicht so verwässert wird, dass es unter der Hand zu einem Studiengebührenmodell wird", sagte ihr Landesvorsitzender Schmidt vor dem Krisentreffen mit Steinbrück. Bei den Grünen wurde erwartet, dass ein Kompromiss bei der 1,75-fachen Regelstudienzeit liegen könnte.
Hinzu sollten aber exakt definierte Ausnahmeregelungen kommen, etwa die Anrechnung von Kindererziehungszeiten oder die Mitarbeit bei der Studentenvertretung AStA. "Wichtig ist, dass wir den Einstieg in das Studienkontenmodell überhaupt schaffen", sagte Seidl.
Offen war am Dienstagabend noch, wie eine Lücke von rund 105 Millionen Euro, die die Studiengebühren einbringen sollten, im Landeshaushalt 2003 geschlossen werden kann. Spätestens bis zur Klausursitzung der Landesregierung am kommenden Sonntag, auf der die zweite Ergänzungsvorlage für den Haushalt 2003 beschlossen werden soll, muss eine Entscheidung gefallen sein. Schon allein aus finanziellen Gründen wurde erwartet, dass sich Steinbrück mit der Einführung des Kontenmodells im Sommer 2003 durchsetzen würde. Das entsprechende Gesetz müsste in diesem Fall bereits in der kommenden Woche fertig formuliert sein.


http://www.frankfurterrundschau.de/fr/221/t221001.htm

LESESTOFF
Dass Bildung mehr ist als die Anhäufung von Wissen, ist derzeit etwas aus dem Blick geraten. Der Schweizer Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl legt mit der "PISA-Falle" eine Ergänzung zum internationalen Schulleistungsvergleich vor. Den Autor interessieren weder Leistungsziele noch Lernprogramme, sondern was "in den Köpfen und Herzen der Kinder" vorgeht, für die solche Ziele definiert werden. Die These, schließlich seien Schulen keine Lernfabriken, ist nicht neu. Die Frage freilich, welche Schulen wir haben, welche wir brauchen, ist so aktuell wie umstritten. Doch oft diskutieren Bildungspolitiker Bedingungen einer Idealschule und meinen nur den einwandfrei funktionierenden Betrieb. Da macht ein Perspektivenwechsel, wie ihn Guggenbühl anbietet, Sinn.
Bei ihm geht es um Rollen, um das Einpassen "in die Zwangssituation Schule"; es geht um Erwartungen, um den Platz im sozialen Klassengefüge, um Macht, um "Harmonieterror". Guggenbühl interessiert, was diese Institution Schule in den Menschen auslöst und wie diese sich damit arrangieren. Diese subjektive Sicht auf das System Schule zieht sich durch das gesamte Buch. Guggenbühl moniert eindringlich, dass die offizielle Schuldebatte die emotionale Komponente in der Schulwirklichkeit ausspare. Wer Schule nur auf Leistung reduziert, kritisiert er, wird die allgemein beklagte Misere nicht beheben können.
"Lernerfolg ist nicht nur von der Intelligenz abhängig, sondern auch von der Bereitschaft, das Denksystem der Erwachsenen zu übernehmen." Er zeigt Zugänge zur Welt der Schüler, zu ihren Themen und Fantasien. Einseitiges Faktenlernen schränkt ein. Deshalb muss sich Schule seiner Ansicht nach wieder stärker an der sozialen und seelischen Welt der Kinder und Jugendlichen orientieren. Schule kann durchaus ein "Haus des Lernens" sein, aber nicht nur. Entscheidend ist, ob Lehrer und Schüler dort "Persönlichkeiten" sein dürfen. Der Autor plädiert, kein Wunder, für eine Schule, in der "es brodelt und kracht, weil sich die Generationen wirklich miteinander auseinander setzen". Er wünscht sich Lehrer, die durch Humor, Konfliktfähigkeit, Menschenliebe und Optimismus imponieren, weniger durch Studienabschlüsse und angeblich exzellente Ausbildungen. "Die besten Lehrpersonen", resümiert Guggenbühl, seien jene, "die sich ärgern lassen, misslungene Schulstunden erleben und einmal pro Monat wegen Schulprobleme eine schlaflose Nacht verbringen." Alles in allem: Eine aufregende Lektüre, die neugierigen Pädagogen eine schlaflose Nacht bereiten kann. tru

Allan Guggenbühl: Die PISA-Falle, Verlag Herder 2002, 187 Seiten, 19,80 Euro.

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Erscheinungsdatum 21.11.2002


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Wissenschaftsrat

Jura-Studium mit zwei Instanzen und Bewährung
BERLIN. Auch das Jura-Studium soll nach den Vorstellungen des Wissenschaftsrates künftig mit einem Bachelor-Abschluss enden. Nur noch ein Teil der Studierenden soll das Rechtswissenschafts-Studium in einem Master-Studiengang fortführen. Das bisher übliche deutsche Staatsexamen mit dem Berufsbild des umfassenden "Voll-Juristen" sei "international nicht vermittelbar" und entspreche auch nicht mehr den Anforderungen des Arbeitsmarktes, sagte Wissenschaftsrats- Vorsitzender Max Einhäupl.
Nur vier Prozent aller ausgebildeten Juristen würden später Richter oder Staatsanwalt, sagte Einhäupl. An diesen beiden staatlichen Berufen sei jedoch das gesamte Studium ausgerichtet. Ein früher Bachelor-Abschluss würde viele Studierende animieren, schneller in den Arbeitsmarkt zu wechseln - etwa als Anwalt oder Rechtsberater. Mit seiner Empfehlung widerspricht der Wissenschaftsrat der Justizministerkonferenz, die am Berufsbild des "Voll-Juristen" festhalten will.
Der Wissenschaftsrat setzt sich nunmehr für die Abschaffung aller ersten Staatsexamen an den Hochschulen ein - mit Ausnahme in den medizinischen Studiengängen. 40 Prozent aller an Universitäten vergebenen Abschlüsse sind bisher Staatsexamen. Für die Lehrerausbildung empfiehlt der Wissenschaftsrat aufeinander aufbauende Bachelor- und Master-Studienabschlüsse. dpa

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Erscheinungsdatum 21.11.2002


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GATS-Konferenz


Kein freier Markt für den Bildungshandel

BONN. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) und die Kultusminister der Länder haben sich in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) auf eine Position zu den Liberalisierungsforderungen anderer Staaten an die EU verständigt. In einer Stellungnahme begrüßen Bund und Länder zwar, dass Bildung zum Gegenstand der Verhandlungen über den Handels mit Dienstleistungen geworden sind. Forderungen von Drittstaaten, den Markt für Bildungsdienstleistungen weiter zu öffnen, lehnen sie jedoch ab.

Im Handelsabkommen über Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services - GATS) hatten sich 1994 die Unterzeichnerstaaten und damit auch die EU verpflichtet, im Handel mit Dienstleistungen den Anbietern aus allen Mitgliedsstaaten die günstigsten Bedingungen einzuräumen. Hoheitlich erbrachte Dienste, wie Bildung, hatte die EU von den GATS-Bestimmungen bisher ausgeschlossen. Die USA, Australien und Japan hingegen drängen auf Lockerungen. Sie fordern, ausländische Anbieter sollten wie Staatseinrichtungen subventioniert werden.
Diese Forderung weist die BLK zurück. Es gebe keinen Anlass, über die bisherigen Zugeständnisse hinaus zu gehen. Die EU habe sich ohnehin zu mehr Liberalisierung verpflichtet als die "im Bildungsbereich besonders aktiven Staaten wie USA, Australien oder Japan". ann

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Dokument erstellt am 20.11.2002 um 21:10:01 Uhr
Erscheinungsdatum 21.11.2002


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Leichte Übung

Gipfelstürmer

Schöne G'schichten können's erzählen im Alpenland zwischen Bregenzer Wald und Steiermark. Von ihren Schulen beispielsweise. Ah, was? Eh alles Hinterwäldler, diese Österreicher? Schmarrn! Deren Schulsystem scheint die Qualität einer perfekten Wiener Kaffee-Melange mit Schlagobers zu haben. Während das hiesige Bildungswesen schwer bekömmlich ist - je nach PISA-Deutung wie eine bittere oder abgestandene Brühe.
Jedenfalls wedelt das österreichische Bildungsministerium stolz mit den Ergebnissen des aktuellen "Bildungsmonitoring". Laut der regelmäßigen repräsentativen Befragung bewerten nunmehr drei Viertel der Bevölkerung die Qualität der Schulen mit sehr gut oder gut. Seit 1994 ist das Ansehen des Bildungswesens immer weiter gestiegen. Besonders hervorragende Noten kassieren die für die Erst- bis Viertklässler zuständigen Volksschulen, prima Zensuren gibt es auch für die berufsbildenden Schulen. Ebenso hat sich das Image der Sonderschulen deutlich verbessert. Und schließlich zollen 56 Prozent der Befragten der Arbeit der Lehrer hohe Anerkennung.
Österreicher, treibt es nicht auf die Spitze! Wie schafft ihr es nur, mit einem ähnlich altmodischen und strikt gegliederten Schulsystem bei PISA im Leseverstehen, in Naturwissenschaften und Mathematik ordentlich über dem OECD-Schnitt und sogar im oberen Drittel zu landen? Wieso habt ihr viel weniger Schüler, die auf der dürftigsten Lesekompetenz-Stufe stecken bleiben? Und das, obwohl so viele Jugendliche wie bei uns - zwei von fünf Schülern - angeben, sie fänden Lesen öde?
Wo treibt ihr das beschämend viele Geld für Schulinvestitionen auf? Wollt ihr uns demütigen mit der höheren Studienanfängerquote, mit der üppigeren Computer-Ausstattung in den Schulen, mit den verblüffend niedrigen Durchschnittsgehältern für Lehrer? Müsst ihr damit imponieren, im OECD-Vergleich die meisten Schulstunden pro Jahr zu erteilen und dafür der Jugend kaum Zeit für Hausaufgaben zu stehlen?
So viele Fragen an die Nachbarn, so wenig Antworten. Nur eine Erkenntnis: Wir sind beim Thema Bildung noch längst nicht übern Berg. feu

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Dokument erstellt am 20.11.2002 um 21:10:01 Uhr
Erscheinungsdatum 21.11.2002


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Katholische Theologie


Vatikan handelseinig mit Thüringen
Von Bernhard Honnigfort

Fast zwei Drittel der Bevölkerung Thüringens sind konfessionslos. Unwichtig, sagt die CDU-Landesregierung: Die Universität in der Landeshauptstadt erhält Ostdeutschlands einzige staatliche Fakultät für katholische Theologie.
ERFURT. Die kleine Zeichnung, abgedruckt kürzlich in der Südthüringer Zeitung, zeigt drei Männer: In der Mitte kniet Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU). Rechts neben ihm steht der Papst und segnet Vogel. Ihnen zur Seite der Erfurter Bischof Joachim Wanke mit erhobenem Finger: "Die Landesregierung ist frommer als das Volk!" Vor ihm liegt ein Dokument, der "Vertrag Vatikan-Thüringen". Die Karikatur spielt an auf einen jahrelangen politischen Streit im Land, der jetzt vor dem Abschluss steht. Am heutigen Donnerstag soll der Thüringer Landtag einer Ergänzung zum "Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Thüringen" zustimmen; Nuntius Giovanni Lajolo und Ministerpräsident Vogel hatten den Staatsvertrag bereits am Dienstag unterzeichnet.
Die Universität Erfurt wird die erste und einzige staatliche Fakultät für Katholische Theologie in Ostdeutschland bekommen. Mit dem Vertrag soll das vor 50 Jahren gegründete "Philosophisch-Theologische Studium" im Priesterseminar Erfurt, das 1999 kirchliche Fakultät wurde, in die staatliche Universität eingegliedert werden. An der kirchlichen Hochschule werden zur Zeit Priester, Diplom-Theologen und Religionslehrer ausgebildet.
Die Universität würde sich durch die neue Fakultät um 215 Studenten und 13 Lehrstühle vergrößern. Außerdem will die Kirche ihre Bücherbestände an die Uni-Bibliothek abtreten, die "Villa Martin" auf dem Universitätsgelände sanieren und Räume beim Dom bereitstellen. Das Lehrangebot der Uni werde "komplettiert", sagte der Präsident Wolfgang Bergsdorf.
Jahrelang zogen sich die Verhandlungen zwischen Thüringen und Vatikan hin. Immer wieder ging es darum, ob die neue Fakultät in Erfurt so wie diejenigen in Westdeutschland funktionieren solle und der Bischof eine entscheidende Rolle bekommt. Nachdem die CDU bei der Landtagswahl die absolute Mehrheit errungen hatte, ging es voran: Wissenschaftsminister Gerd Schuchardt (SPD), ein strikter Gegner der Eingliederung, schied damals aus der Regierung. Schuchardt ist auch heute noch gegen den Kirchenvertrag.
In Thüringen sind laut Statistik 8,5 Prozent der 2,4 Millionen Einwohner Katholiken. 27,9 Prozent gehören der evangelischen Kirche an. 63 Prozent der Thüringer sind konfessionslos. Was Schuchardt "Bauchschmerzen" bereitet, ist in westdeutschen Bundesländern, die mit dem Vatikan Verträge geschlossen haben, längst Alltag. Es geht um die Verquickung von kirchlichen und staatlichen Befugnissen: Theologieprofessoren erhalten künftig nur dann vom Freistaat Thüringen einen Lehrauftrag, wenn der Bischof von Erfurt keine Einwände hat. Außerdem verlieren sie ihren Posten, wenn sie gegen "die Erfordernisse eines Lebenswandels nach der Ordnung der katholischen Kirche" verstoßen und der Erfurter Bischof das beanstandet. Ein Priester im Hochschuldienst, der heiratet, wäre untragbar. Gegen diese "Nihil obstat"-Regelung ("Nichts steht entgegen") bei der Besetzung von Professorenstühlen und bei der Lehrbefugnis wendet sich die Landtagsopposition von SPD und PDS. "Thüringens Steuerzahler müssten einen neuen Professor bezahlen, außerdem den aus dem Amt entfernten Professor bis zur Pensionierungsgrenze", kritisiert Schuchardt. Staatliches Beamtentum und Dienstaufsicht der Kirche würden vermischt. Für kritikwürdig hält Schuchardt auch die Tatsache, dass der Vertrag nichts über eine mögliche Schließung der Fakultät sagt. "Was ist, wenn die Studenten ausgehen? Der Freistaat hat die Dinge nicht mehr in der Hand", bemängelt Schuchardt. "Geht es schief, dann müssen wir auf ewig eine Fakultät vorhalten."

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Dokument erstellt am 20.11.2002 um 21:10:01 Uhr
Erscheinungsdatum 21.11.2002


http://www.frankfurterrundschau.de/fr/221/t221007.htm

WIDERWORTE

Spicken ist keine üble Lernmethode
Von Peter Struck

Nach einem Jahr der PISA-Debatte macht sich Ernüchterung breit. Nur wenig deutet sich an Verbesserungen an, und die richten sich eher auf äußere Maßnahmen als auf eine dringend erforderliche innere Schulreform. Wir bräuchten wohl vor allem einen PISA-Test für Kultusminister, denn sie gehen durch die Bank einerseits recht unintelligent und andererseits nach wie vor ideologisch an die Schulgestaltung heran.
Die Schule vor Ort zu stärken ist eine Konsequenz aus PISA. Die Kultusminister wollen immerhin den unterschiedlichen regionalen Bedingungen von Schulen Rechnung tragen, wenn sie von "selbstständiger Schule" mit eigenem Profil oder Schulprogramm, von "schulscharfer Einstellung" oder Personalhoheit der einzelnen Schule, von "eigener Budgetierung" und von Schulmanagement sprechen. So startet Bayern das Projekt "Modus 21", mit dem 22 Pilotschulen ausprobieren sollen, wie viel Autonomie sie vertragen und wie viele zentral vorgegebene Standards sie benötigen. Eine positive Folge von PISA ist auch, dass die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern gemeinsame Lehrpläne entwickeln; leider haben Niedersachsen und Schleswig-Holstein aber die Chance vertan, sich diesem Konzept anzuschließen.
Weniger zentrale Vorgaben und mehr Schulgestaltung vor Ort ist eine Einsicht, die die Kultusminister offenbar von den bei PISA oben stehenden skandinavischen Ländern und von Kanada abgeschaut haben. Konsequenterweise hätten sie dann aber auch die Lehrpläne deutlich entrümpeln und straffen müssen sowie die Grundschule mit dem Kindergarten integrieren sollen, wie es gerade der Kanton Zürich mit einem neuen Volksschulgesetz auf den Weg bringt. Aus Zürich hätte man auch lernen können, dass in dem Maße, wie bei immer mehr Kindern die Arbeitsteilung zwischen der erziehenden Familie und der bildenden Schule nicht mehr funktioniert, die Eltern strafbewehrt zur Teilnahme an Elternabenden und Sprechtagen gezwungen werden können, dass Schüler besser lernen, wenn sie statt nur einen zwei Klassenlehrer (am besten eine Frau und einen Mann) haben, indem zwei Lehrkräfte zusammen zwei Klassen führen.
Aber wir sind eben noch weit entfernt davon, verstehen zu wollen, dass die in Dänemark, Schweden und Finnland selbstverständliche Notenfreiheit bis zur Klassenstufe 7 oder 8, die wesentlich längere gemeinsame Grundschulzeit und ein stark schülerbezogenes Lernen mehr bringt. Dass man in Kanada beste Erfahrungen damit macht, jedem Schüler eine weitere Bezugsperson aus der Arbeitswelt an die Seite zu stellen, den Eltern "Parent-Raps" in Sachen Erziehung anzubieten, die Schüler mehr über Handeln und Reden statt über Zuhören lernen zu lassen. In Belgien haben die flämischen Schulen deutlich besser bei PISA abgeschnitten als die wallonischen; Eine Schulleiterin erklärt das so: "Während in Wallonien vor allem Lässigkeit in den Schulen obwaltet, ist es in Flandern Gelassenheit; mit gelassenen Lehrern lassen sich Schüler eben besser konfrontieren und leichter an Ordnung und Disziplin heranführen."
Die PISA-Ergebnisse ließen sich auch so interpretieren: Die deutsche Schule ist traditionell eine belehrende Halbtagsschule, die nachmittags durch Hausaufgaben ergänzt wird. Wohlmeinende Lehrer haben in den letzten 30 Jahren den Anteil der Hausaufgaben um etwa zwei Drittel reduziert, so dass heute weniger angewendet und geübt wird als früher.
Und da es in Süddeutschland noch heute etwa doppelt so viele Hausaufgaben wie in Norddeutschland gibt, ist es kein Wunder, dass Bayern und Baden-Württemberg bei PISA-E besser abschneiden als Niedersachsen. Wenn die norddeutschen Schüler also besser werden sollen, muss man entweder ihre Hausaufgabenmenge verdoppeln oder die Aufgaben in Ganztagsschulen integrieren. Indem jede vierte deutsche Schule zur Ganztagsschule ausgebaut werden soll, wird sich vielleicht einiges verbessern.

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Dokument erstellt am 20.11.2002 um 21:10:01 Uhr
Erscheinungsdatum 21.11.2002


http://zeus.zeit.de/text/2002/47/P-Alan_Kay

DIE ZEIT
47/2002

computer
Der Schulspaßmacher
Alan Kay hat lauter Dinge erfunden, die das Leben mit dem Computer einfach machen. Gleichzeitig will er Kindern das Denken beibringen
Von Annette Lessmöllmann

Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Auto. Das Publikum macht lange Hälse und sieht Alan Kay zu, wie er am Rechner vorführt, was sein Programm Squeak alles kann. Er taucht den elektronischen Pinsel in sattes Rot und malt auf dem Bildschirm einen dicken Fleck. Vorn mit Gelb zwei Kleckse dran, das sind die Scheinwerfer. Vier Striche drum herum, das sind die Reifen. Und schon begreift der Rechner das Ding als Einheit, die man als Ganzes drehen und herumschieben kann.
Dann setzt Kay aus verschiedenen Bausätzen Anleitungen zusammen, arrangiert sie als Befehlsfelder um die lustige Karre herum – und schon lässt sich diese mit wenigen Mausklicks in Fahrt bringen: Geradeaus! Langsam losfahren! Beschleunigen! Oder: Fahre eine Kurve! Eine Palette automobiler Verhaltensweisen lässt sich damit zusammenstellen und beliebig hintereinander schalten. Das Auto düst Haken schlagend über den Bildschirm. Das Publikum der Hamburger Konferenz "Mensch & Computer" ist erfreut: Wie einfach! Wie übersichtlich! Kay schnappt sich mit der Maus erneut den dicken Pinsel und malt noch ein rundes Ding an den Rand des Bildschirms. Er nennt es "Lenkrad". Mit wenigen Handgriffen ist das Auto mit dem Lenkrad synchronisiert. Wenn Kay jetzt am Klecks dreht, nach rechts einschlägt, dann fährt auch das Auto nach rechts. Lässig, mit dem Mauszeiger am Steuer, dreht Kay mit dem kleinen Squeak-Auto ein paar rasante Runden.
Kinderleicht – Kay hat diesem Wort eine ganz besondere Bedeutung gegeben. Es bedeutet für ihn nicht "trivial" oder "plump" oder "platt". Die Formulierung "Das kann ja jedes Kind!", die er bei seinen Vorführungen häufig zu hören bekommt, interpretiert er grundsätzlich als Kompliment. Etwas für Kinder zu gestalten sei sehr anspruchsvoll. "Denn Kinder sind nicht so blöd wie Erwachsene", sagt der über 60-Jährige, der selbst so viel Kindliches hat. Er gibt den Schelm mit wuscheligem Kopf, demonstriert Nonchalance unter anderem in Kleidungsfragen und lebt seinen Einfallsreichtum in bunten voll gemalten Präsentationsfolien aus.

Kinder werfen Sachen, die sie nicht interessieren, in die Ecke. Zu Recht, findet er. "Warum sollen sie sich stundenlang mit schlechten Programmen herumquälen müssen?" Aber wenn die Kleinen etwas interessiert, dann knien sie sich hinein. Also gilt es, die Schule so zu gestalten, dass die Kinder sich hineinknien. Das ist, in seinen Worten, hard fun: Spaß, für den man Einsatz bringt. "Denken Sie mal, wie hart amerikanische Kinder arbeiten, um Baseball zu lernen!"
Kay hat Squeak für Schulen konzipiert. Seit 1996 arbeitet er zusammen mit anderen Entwicklern daran, zunächst bei Apple, dann bei Disney. Oft hat er Einwände von Leuten zu hören bekommen, die den Computer längst wieder aus den Klassenräumen verbannen möchten. Sie sehen in Rechnern die Feinde der Kreativität. Kay dagegen will noch viel mehr von den Kisten in den Schulen aufstellen. Mit deren Hilfe sollen Kinder denken lernen, logische Verbindungen knüpfen, einfache, elegante Lösungen für Probleme finden – zum Beispiel erfahren, was ein Winkel ist, indem sie mit Lenkrädern und Autos experimentieren. So, wie man Sprachschüler in das Land schickt, wo die Sprache gesprochen wird – "so schicken wir die Schüler nach Matheland. Oder Squeakland."

Kinder lernen durch Anschauung – auch am Computer
Kay orientiert sich an der Erzieherin Maria Montessori. Ihre besondere Pädagogik beruht unter anderem auf der Einsicht, dass Kinder durch Anschauung lernen; durch Eintauchen in eine Wirklichkeit, die jedoch heutzutage, in der modernen Welt, so wenig anschaulich ist. Kays pädagogischer Vorschlag lautet nun: das Unanschauliche im Computer anschaulich machen. Er stoppt das Auto, wählt die Pinselfarbe Blau und die Pinselstärke "sehr dick" und malt einen Rundkurs mit vielen Kurven auf den Bildschirm. Die Aufgabe für die Kinder lautet: "Wie bringe ich das Auto dazu, diese Strecke abzufahren?" Kay setzt das Auto auf die "Straße" und definiert: "fahre-geradeaus" und "fahre-auf-blau". Das Auto fährt los. Sobald es das Weiß rechts und links von der Straße streift, ändert es seinen Kurs, schwenkt zurück auf die blaue Fahrbahn – die Aufgabe ist gelöst.
Von den Angehörigen der Squeak-Gemeinde auf der ganzen Welt wird diese Fingerübung gerne zur Demonstration einer einfachen, eleganten Lösung verwendet. Sie, die "Squeaknics", aber machen aus der raffinierten Grundlage gerne noch mehr und entwickeln den offenen Code weiter: Jeder, der will, kann mitmachen. Das Programm ist open source, jedem zugänglich und nie fertig. Die Gemeinde ist groß geworden. Viele Schulen und Hochschulen gehören schon dazu, sie verwenden Squeak-Varianten als Lerngerüst, zur Demonstration im Unterricht oder für komplexe Simulationen.
Squeak wird zum Beispiel in der Open Charter School in Los Angeles eingesetzt, einer Schule, die nach den Erkenntnissen des Kinderpsychologen Jerome Bruner gestaltet ist: Die Kinder erarbeiten sich den Lernstoff in kleinen Gruppen, nach dem Prinzip Learning by doing. Im schuleigenen Garten und im simulierten Rechner-Vivarium können sie Tierverhalten studieren. Es war Kay, der die Idee hatte, den Kindern Parallelerfahrungen von realer und digitaler Fauna zu ermöglichen. Von der Open Charter School geht die Sage, dass ihre Schüler dazu gezwungen werden müssten, nach Hause zu gehen, wenn der Unterricht zu Ende ist.
Für Kay schließt sich hier ein Kreis. Heute noch gerät er in Rage, wenn er davon erzählt, dass der kleine Alan, ein wissensdurstiger Vielleser, seine Kreativität in der Schulzeit nicht habe ausleben können. Die amerikanischen Schulen bekommen von ihm keine guten Noten; da engagiert er sich lieber im alternativen Modell der Open Charter School. Erst im Studium der Mathematik und der Biologie fand der ideensprühende, hoch begabte Junge, der sich auf kein Studienthema so recht festlegen wollte, Unterstützung vonseiten der Lehrer. Kay entschied sich für eine Promotion in Informatik und kam in Kontakt mit Leuten, die Computer und Mensch näher zusammenbringen wollten. Ivan Sutherland hatte Sketchpad entwickelt, ein interaktives Grafikprogramm – und das zu einer Zeit, als Computer noch wenigen Experten vorbehalten waren, die in weißen Kitteln an raumfüllenden, brummenden Monstren hantierten. 1969 begann Kay, vom Personal Computer zu sprechen, und entwarf das Dynabook, ein multimediales, vernetztes, tragbares Ding zum Schreiben, Malen und Abfragen von Informationen aus aller Welt: Der Visionär Kay hatte die heutigen Notebooks und PDAs vorausgesehen, zu einer Zeit, als man für solche Ideen nur Kopfschütteln erntete, an eine industrielle Entwicklung jedenfalls kaum zu denken war. Deswegen baute er damals ein Modell des Dynabook erst mal aus Pappe.
Dreißig Jahre später arbeiten Millionen Menschen auf der Welt mit dem, was sich der wuschelköpfige Freak und seine Kollegen damals ausgedacht hatten: Gefühlvoll bewegen wir die Maus und klicken auf Bildchen, um Fenster zu öffnen – das Visuelle, Interaktive, Handlungsbasierte am Computer geht maßgeblich auf Kay zurück. Er baute das legendäre Forschungszentrum, den Xerox PARC (Palo Alto Research Center), mit auf, einen Think Tank, in dem der Kopiererhersteller jungen Visionären erstaunliche Summen fürs Denken bereitstellte. "Die Zukunft zu erfinden ist die beste Strategie, um sie vorauszusehen", lautet eines der Kayschen Bonmots. Wehmut überkommt ihn, wenn er an dieses goldene Zeitalter völlig freier Forschung denkt; die heutigen Sparzwänge lagen in weiter Ferne.
1973 entwickelte er den Alto-Computer, der eine grafische Benutzeroberfläche hatte. Aber erst die kleine Firma Apple erkannte viele Jahre später das Potenzial in dieser Entwicklung und konnte damit kommerziell erfolgreich sein. Während der Tüftler Kay längst weitergeflogen war, schlugen sich seine Ideen wie Kondensstreifen in marktfähigen Produkten nieder. Kay wechselte zu Atari, dann zu Apple, dann zu Disney. Sein Jobprofil lautete oft einfach nur: "Visionär". Aber die sorglosen Zeiten scheinen vorbei zu sein. Auch Disney hat die Budgets gekürzt. Und so ist Kay weitergezogen. Er ist jetzt Präsident des Viewpoint Research Institute, einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in Glendale bei Los Angeles. Viele alte Mitstreiter haben sich dort versammelt, mit einem gemeinsamen Ziel: interaktive Lernumgebungen zu schaffen. Natürlich für "Kinder jeden Alters". Denn das, was für Kinder gut ist, ist für Erwachsene nicht schlecht. "Wir haben damals die Windows-Idee eigentlich für Kinder entwickelt", sagt Kay und grinst. "Raten Sie mal, wer heute alles mit Windows arbeitet?"
Alan Curtis Kay meinte schon vor mehr als dreißig Jahren: Jeder Mensch sollte einen Rechner bedienen können. In den siebziger Jahren entwickelte er die benutzerfreundliche grafische Oberfläche. In den Neunzigern erdachte er das spielerische Computerprogramm Squeak für Kinder. Heute leitet der 62-Jährige das Viewpoint Research Institute im kalifornischen Glendale und arbeitet an Konzepten für eine bessere Schulbildung

 

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