Presseschau im Dezember 2002

 

http://www2.welt.de/data/2002/12/27/28128.html

Elternverein macht gegen Pläne von Lange mobil

Vorwurf: Der Senator kündigt die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Eltern und Schule auf

Die Pläne von Bildungssenator Rudolf Lange, bereits nach der fünften Klasse leistungsschwache Schüler abzuschulen, trifft auf den erbitterten Widerstand des Elternvereins in Hamburg. Er befürchtet, dass Eltern bei der Schullaufbahnentscheidung für ihre Kinder noch stärker unter Druck geraten. Nach den Worten der Vorsitzenden Karen Medrow-Struss gebe es jedes Jahr eine Vielzahl von Eltern, die ihr Kind trotz gegenteiliger Empfehlung auf ein Gymnasium schicken wollten. "Viele Eltern wollen diesen Königsweg gehen, und der Entscheidungszwang bei der Schulwahl nach der vierten Klase ist ohnehin sehr hoch. Da spielen sich mit jeder Note Dramen zu Hause ab", erklärt die Vorsitzende vom Elternverein gegenüber der WELT. Statt bislang zwei Jahre habe der Schüler nur ein Jahr lang die Chance, seine Leistungsfähigkeit zu zeigen. Dies werde ein "Frustweg auf den Gymnasien" mit einer "einschneidenden Lebensqualität für die Kinder". Lange missbrauche den Elternwillen, um das dreigliedrige Schulsystem zu stabilisieren. Zudem würden Schüler noch früher selektiert. "Der Elternwille muss abgeschafft werden", lautet die Forderung von Karen Medrow-Struss und ihrer Mitstreiterin Sabine Boeddinghaus. Das Führungsteam vom Elternverein begründet seinen Vorstoß mit der fehlenden Umsteuerung des Schulsystems, die nach Pisa notwendig gewesen wäre. "Das dreigliedrige Schulsystem hat versagt, doch stattdessen werden auch noch Haupt- und Realschulen getrennt. Wer meldet sein Kind denn an einer Hauptschule an?", so Medrow-Struss.


Der Elternverein moniert darüber hinaus die geplante Abschaffung von Berichtszeugnissen zu Gunsten von Noten. Bei Sanktionsmaßnahmen wolle Lange den Lehrern mehr Macht geben, ohne beispielsweise bei der drohenden Beurlaubung eines Schülers oder der Teilnahmeverweigerung an Klassenreisen wie bislang die Eltern einzubinden. "Mit dem neuen Schulgesetz werden unsere Mitbestimmungsrechte beschnitten. Der Senator kündigt die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Eltern und Schule auf", kritisieren Karen Medrow-Struss und Sabine Boeddinghaus. nici


Artikel erschienen am 27. Dez 2002



http://www.taz.de/pt/2002/12/27/a0189.nf/text


Eine Spar-Liste ohne Anspruch auf Vollständigkeit
Senats-Prädikat: Überflüssig
Frauen und Mädchen:

- Die fünf autonomen Frauenhäuser müssen mit 7,44 Prozent weniger Geld auskommen. Das diakonische Frauenhaus muss eine halbe Stelle abgeben.

- Der Missbrauchs-Beratungsstelle Allerleirauh wurden bislang 14 Prozent des Etats gekürzt, alle Honorarkräfte mussten entlassen werden. Folgen: keine Gruppenangebote mehr, nur noch eingeschränkte Präventionsarbeit an Schulen und mit Jungen. Auch die anderen Beratungsstellen (Zündfunke, Zornrot, Kinderschutzzentrum) haben etwa 10 Prozent weniger.

- Das FrauenMusikZentrum soll ab 2003 überhaupt keine Förderung mehr bekommen.

- Die Mädchen-Oase im Schanzenviertel musste schließen.

- Die psychosozialen Frauenberatungsstellen verlieren 50 Prozent der Gelder.

- Bei den Dollen Deerns werden 44,9 Prozent gekürzt. Schließung der Informationsstelle feministische Mädchenarbeit, Entlassung einer Mitarbeiterin.

- Das Frauenbildungszentrum Denk(t)räume verbucht minus 40 Prozent. Das Veranstaltungsprogramm wird eingestellt.

- Dem Mädchenprojekt Kajal fehlen acht Prozent.


Kinder und Jugendliche:

- Dem Projekt KIDS, das sich um Straßenkinder rund um den Hauptbahnhof kümmert, wurden zehn Prozent gestrichen. Zwei der zwölf Personalstellen fallen weg.

- Auf Bezirksebene wurde ebenfalls heftig gekürzt: Mitte hat allein in St. Pauli sieben Stellen in der Jugendsozialarbeit gestrichen, das Café Online soll zumachen. Auch das Stadtteilprojekt Sonnenland verlor eine Stelle.

- Das Jugendamt Altona hat die Bewilligung von Erziehungsberatung bei der Diakonie fast eingestellt: Wurden 2001 noch Beratungen für knapp 56.000 Mark "gebucht", waren es 2002 nur noch 3.450 Euro. Die letzte Verfügung einer Hilfe zur Erziehung wurde im Mai 2002 ausgestellt. Ähnliches gilt für Eimsbüttel: Dort wurde 2001 für 34.000 Mark beraten, in diesem Jahr nur noch für 4.900 Euro.

- Die Erziehungsberatung in Mitte soll geschlossen werden.

- Die Bezirke sparen auch an Spielplätzen und Grünanlagen: 200.000 Euro gab es in diesem Jahr schon weniger, weitere 400.000 sollen im kommenden Jahr wegfallen. Der Bezirk Eimsbüttel hat bereits verkündet, dass von 16 Spielplätzen die Spielgeräte abgebaut werden, weil die Wartung zu teuer ist.

- Das studentische Jugendprogramm, bei dem 57 Studierende in Projekten in Stadtteilen wie Steilshoop, Billstedt und Neu Allermöhe arbeiteten, wird eingestellt: 128.000 Euro gespart.


Schwule & Lesben:

- Das Magnus-Hirschfeld-Centrum verliert 25 Prozent bei den Sachmitteln.

- Dem JungLesbenZentrum fehlen 50 Prozent der Mittel: Zusammenlegung der Räume mit dem Trägerverein Intervention, Entlassung einer Mitarbeiterin, die anderen arbeiten mit reduzierten Stunden, weniger Beratungszeiten. Noch ist unklar, ob es 2003 überhaupt Geld gibt.


AIDS-Prävention:

- Kürzung der AIDS-Projekte um 70.000 Euro, 50.000 davon von der AIDS-Hilfe. Diese muss ihre Betreuung Infizierter erheblich einschränken. Die anderen Projekte stellen ihre Öffentlichkeitsarbeit weitgehend ein.


Migranten:

- Bei den Interkulturellen Frauenbegegnungsstätten fallen 71.000 Euro weg, das sind 26 Prozent der Zuwendungen.

- Auch die deutsch-ausländischen Begegnungsstätten von verikom verloren 25 Prozent ihres Etats: Die Begegnungsstätte in Billstedt wurde geschlossen.


Drogenhilfe:

- Das Café Sperrgebiet verliert eine viertel Stelle für Straßensozialarbeit.

- Das Café Drei in Eimsbüttel wird geschlossen.

- Das DroBill ist bereits zu.

- IGLU, ein Projekt, das substituierten Eltern und deren Kindern hilft, verliert 14.600 Euro.

- Und: 2003 soll die Drogenhilfe um weitere 800.000 Euro gekürzt werden.


Bildung und Beschäftigung:

- ZEBRA musste schon 30 Stellen streichen und 2003 zusätzliche 1,5 Millionen Euro abgeben.

- Die Berufliche Autonomie für Frauen (BAFF) verliert 25 Prozent: Acht ABM-Stellen weg.

- Die Abschaffung des Programms "Tariflohn statt Sozialhilfe" bei der Hamburger Arbeit spart mindestens fünf Millionen Euro. Die Sozialhilfeempfänger müssen für einen Euro pro Stunde arbeiten. Wer nicht mitmacht, bekommt Abzüge.

- Der Jugendberufshilfe drohen Kürzungen von 50 Prozent. Die Jugendwerkstatt Rosenallee des Diakonischen Werks sowie die autonomen Jugendwerkstätten dürfen keine neuen Azubis einstellen. Dadurch fällt ab Februar auch die anteilige Finanzierung der Anleiter und Infrastruktur weg. Außerdem wird die Zuwendung um fünf Prozent gekürzt.

- Das ABM-Projekt Stadtteilcafé Steilshoop soll zum 1. März dichtgemacht werden.

- Weil die Behörde für Wirtschaft und Arbeit bei Beschäftigungsträgern auf Fallkostenpauschalen umstellt, drohen zusätzliche Kürzungen in noch nicht absehbarem Ausmaß.


Sozialhilfe:

- Herabsetzung der Fallzahlen um über 1000. Und: Pro Empfänger werden 140 Euro weniger veranschlagt.


Umweltschutz:

- Hygiene-Institut: Durch die Zusammenlegung von Umwelt- und Gesundheitsbehörde bekommt das Hygiene-Institut das Fachamt für Umweltuntersuchungen und muss künftig Boden-, Wasser- und Luftproben untersuchen. Die Fusion soll sparen helfen, 700.000 Euro muss das Institut erwirtschaften. "hej/san

taz Hamburg Nr. 6939 vom 27.12.2002, Seite 18, 188 TAZ-Bericht hej/san



http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel4761.php

Weise in der Wiege

Zuhören macht Kinder schlau: Ein Plädoyer fürs Vorlesen

In DDR-Klassenzimmern hing einst der Spruch "Lernen, Lernen, nochmals Lernen." Er wurde Lenin zugeschrieben. Vielleicht sollte nach Pisa die Ergänzung "Lesen, Lesen, nochmals Lesen" die Wände sämtlicher deutscher Klassen zieren. Lesen ist ein Grundhandwerkszeug, das als "Türöffner" (Jürgen Baumert) für alle weitere Bildung gilt. An dieser Basiskompetenz aber mangelt es bei so vielen getesteten 15jährigen. Und die Unfähigkeit, sinnvoll zu lesen, unter der fast jeder vierte Jugendliche leidet, ist keine Krankheit, die sich bald heilen lässt. Wer mit 15 Jahren nur mit Mühe den Sinn des Gelesenen erfasst, liest mit 25 meist gar nicht mehr und wandert ab ins funktionale Analphabetentum, wo sich schon ein paar Millionen Mitbürger tummeln.

Die Debatte nach Pisa hat zunächst vor allem deutsche Hysterie gezeitigt und dann mengenmäßig Absichtserklärungen. Mittlerweile sind sämtliche Kassen leer, Büchereien werden geschlossen, Deutschkurse gekippt. Die Hoffnung auf

Besserung der Lesefähigkeit durch innovative Programme für die Kleinsten, für die Benachteiligten deutscher wie fremdländischer Herkunft schwindet täglich. Dabei kann man Lesen und die Lust am Lesen so leicht anschieben, auch ohne teure Sonderprogramme und Sonderlehrer - schlicht durch Vorlesen.

Vorlesen kann man schon halbjährigen Kindern. Man braucht nur ein passendes Buch, und man sollte selber lesen können. Früher wurde Kindern vorgelesen: von Müttern beim Zubettgehen, von Großmüttern im Lehnsessel, von Kindergärtnerinnen. Und heute? Vorlesen ist der Zeitarmut und der aufgelösten Familie ebenso zum Opfer gefallen wie pädagogisch angeblich wertvolleren Beschäftigungen.

"Wenn wir unsere Eltern dazu bewegen könnten, ihren Vorschulkindern täglich nur 15 Minuten vorzulesen, könnten wir die Schulen revolutionieren", notierte schon vor zwanzig Jahren Ruth Love, damals Leiterin der Schulbehörde von Chicago. Das war auch in Amerika einmal ganz anders. John Adams beobachtete 1765, dass im puritanischen Neu-England "ein Amerikaner, der nicht lesen oder schreiben kann, eine so seltene Erscheinung ist wie ein Komet oder ein Erdbeben." Grund für derlei Kompetenz der amerikanischen Vorväter war die tägliche Bibellesung in der Familie - von der Wiege bis zur Bahre. Lang vorbei sind solch lesefördernde familiäre Erlebnisse fast überall, wie viele Studien (nicht erst OECD und Pisa) belegen.

Glückliche Wende

Die Forschung verblüfft uns seit einigen Jahren mit den Talenten der Allerkleinsten, der "Wissenschaftler in der Wiege" ("The Scientist in the Crib" von Allison Gopnik et al.). Einmonatige Babys können die Laute sämtlicher Sprachen der Welt erkennen. Etwa mit neun Monaten verliert sich diese Fähigkeit. Mit zwei Jahren, wenn sie noch längst nicht die Schuhe zubinden können, unterscheiden sie bereits klar einen grammatischen von einem ungrammatischen Satz. Ihre sprachliche Grundbildung beginnt also lange bevor sie reden, geschweige denn schreiben oder lesen können. Das hat vor allem mit Interaktion zu tun und dem Vergnügen, das Babys als Unterhalter ihrer Umwelt haben. So spritzen sie ihre Eltern nass und amüsieren sich königlich über deren verdutzte Gesichter.

Was ist mit so vielen kleinen Kindern zwischen Geburt und Sekundarstufe I passiert, dass sie so ganz und gar die Lust am Lautsprachlichen verlieren und in Spracharmut verfallen?

Man hat zu wenig mit ihnen gespielt, gesungen, gereimt, sich nicht von ihnen erzählen lassen oder ihnen erzählt. Vor dem Fernseher entwickeln Kinder ihre Talente nicht. Dort verfällt ihre Sprachkompetenz, wird ihre Phantasie zugeschüttet. Je mehr man mit ihnen plaudert, spielt oder liest, desto mehr blühen sie auf. So haben nach einer Studie der University of Chicago 20 Monate alte Kinder von redseligen Müttern im Schnitt 131 mehr Wörter in ihrem Wortschatz als Kinder von eher maulfaulen Müttern. Im Alter von zwei Jahren hat sich diese Kluft bereits auf 295 Wörter ausgedehnt. "Die Entwicklung der sprachlichen Grundbildung", mutmaßt die englische Forscherin Marian Whitehead, "muss abhängig sein von der Entwicklung einer Basis gemeinsamer Bedeutungsinhalte und Kommunikation mit Anderen, und zwar noch bevor Wörter und Schreiben eine Rolle spielen."

Das Vorlesen scheint genau diese Basis gemeinsamer Inhalte auf kommunikative Weise zu fördern. So hat ein Forschungsprojekt mit dem Namen "Bookstart", das in der englischen Stadt Birmingham durchgeführt wurde, erstaunliche Ergebnisse gebracht. Die Eltern von zufällig in Kliniken und bei Kinderärzten ausgewählten neun Monate alten Säuglingen erhielten zu Beginn ein Paket mit Bilderbuch, Poster und Kinderreimen sowie Anweisungen, wie man selbst mit kleinsten Kindern die öffentlichen Büchereien nutzen kann. Regel mäßig wurde die Steigerung des sprachlichen Interesses der Babys getestet ebenso wie die Begeisterung ihrer Familien für Bücher und Bibliotheken. Der Enthusiasmus der Kinder wuchs und wuchs und ließ auch nach der Einschulung nicht nach. Die frühe Begegnung mit dem Buch zahlte sich freilich nicht nur im Spracherwerb aus, sondern zeigte langfristig Wirkung auf das Erlernen des Lesens wie auch auf das mathematische und naturwissenschaftliche Denken.

Das unterstreicht die Rolle der Eltern und anderer Erziehungspersonen im Bildungsprozess. Es belegt aber auch die Pisa-Diagnose, dass mangelnde Lesekompetenz ihre Fortsetzung in schlechten mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen findet. "Bookstart" ist ein wohlfeiler Weg , einen guten Start ins Lesen und in die Schule auch Kindern aus bildungsfernen Schichten zu ermöglichen. Wichtig ist freilich, die richtigen Bücher für das jeweilige Alter zu wählen.

Sehr kleine Kinder etwa können komplizierte Zeichnungen nicht erkennen. Der Weg geht vom Bilderbuch, zu Geschichten und Erzählungen und langsam zum Roman. Kleine Kinder lieben Reime, Zungenbrecher, Abzählverse, Schlaflieder. Oxforder Psychologen haben bei 3-4jährigen einen Zusammenhang zwischen einer Sensibilität für Stab- und Endreime und frühem Lesenlernen gefunden. "Es hat ganz den Anschein", so Marian Whitehead, "dass Kinder, die über gute Fähigkeiten zum Reimen verfügen, sehr früh in der Lage sind, Strategien für ihre Lese- und Ausdrucksfähigkeit zu entfalten."

Vorlesen ist zunächst kein Instrument zum Lesenlernen, sondern zum Zuhören und zur Konzentration. Freilich soll es in dem Kind den Wunsch entstehen lassen, (irgendwann) selber lesen zu wollen. Routine und Regelmäßigkeit sind unabdingbar, eine viertel Stunde morgens vor der Schule oder abends vor dem Zubettgehen und interessante Bücher, die die Kleinen und Kleinsten fesseln und ihre Phantasie beflügeln. Kindern, denen nicht vorgelesen wird und denen keiner Geschichten erzählt, fehlen die Gründe, selbst das Lesen lernen zu wollen. So wie diejenigen, denen keiner die Fragen beantwortet, aufhören, Fragen zu stellen.

Die Körber Stiftung hat in ihrem transatlantischen Ideenwettbewerb "USable"ein Berliner Vorleseprojekt ausgezeichnet. Es befindet sich mitten in Kreuzberg und macht dort Kindern und Eltern aus lesefernen Gruppen das Abenteuer des Vorlesens schmackhaft. Bei "Lesewelt e.V." lesen etwa 80 freiwillige Vorleser in zwanzig Büchereien hunderten von Kindern vor. Auch in einem sozialen Brennpunkt Hamburgs wird derzeit ein Lesewelt-Projekt aufgebaut. Neue Studien sind fürs Vorlesen nicht nötig, Kommissionen auch nicht. Die Folgen des Vorlesens sind längst erforscht und privat überall dort belegt, wo vorgelesen wird.

Roald Dahl, ein großer Zauberer der Kinderliteratur, hat in dem Essay "Lucky Break" seinen eigenen Weg zum Buch geschildert. Dahl hasste die Schule, seine Lehrer bestätigten ihm Ideenmangel und nannten ihn einfach unfähig. Die Wende kam in Gestalt einer Vorleserin, einer Frau aus der Nachbarschaft, die die Schuljungen beaufsichtigen sollte, während die Lehrer in der Kneipe weilten. Diese Frau erschloss den Kindern das Universum der englische Literatur. Plötzlich wurde die Schulwoche erträglich, weil am Samstag die Vorleserin kam. Innerhalb eines Jahres war aus Dahl ein unersättlicher Leser geworden - aus dem ein Schreiber werden sollte, der einige der besten Vorlesebücher der Welt geschrieben hat.

Wie viele Kinder erfahren diese Erweckung ihrer Phantasie nie, weil kein Vorleser ihren Verstand und ihr Herz berührt? Die Kinder, die so abwesend scheinen, vielleicht warten sie nur darauf, dass man ihnen vorliest. Eltern, Lehrer und Erzieher sollten sie nicht länger warten lassen. Lest ihnen vor - gleich!

CHRISTINE BRINCK



http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel4676.php

Die Familie

Routinen und Rituale geben Kindern Geborgenheit, sagen Forscher



Manchen sind Familientreffen zu Weihnachten, Ostern oder Geburtstagen einfach nur lästig. Vielen Familien dienen sie aber genau wie die kleinen tägliche Rituale als Ankerpunkte, um ein bisschen Ordnung in stressige und unübersichtliche Zeiten zu bringen. "Am Ende scheint das die Gesundheit und das Wohlbefinden der Familien-Mitglieder zu befördern", sagt die Psychologin Barbara Fiese. Die Wissenschaftlerin von der Syracuse University im US-Staat New York hat sich mit ihren Kollegen Studien aus über 50 Jahren Familienforschung angesehen. Ihre Übersichtsarbeit präsentieren sie in der Dezember-Ausgabe des Journal of Family Psychology (Bd.16, S.381, 2002).

Einige der Arbeiten wiesen darauf hin, dass Kinder allgemein gesünder und verhaltensunauffälliger sind, wenn sie in einer Familie aufwachsen, die tägliche Routinen entwickelt hat: gemeinsames Abendessen, feste Bettzeiten, der wöchentliche Ausflug. Auch die Eltern scheinen sich dann insgesamt als kompetentere Erziehungsberechtigte zu fühlen. "Wo Ordnung herrscht, ist die Familie gesund": Eine solche Deutung aber könne sich als Trugschluss herausstellen, sagt Fiese. "Wir wissen nicht, ob es sich tatsächlich um einen kausalen Zusammenhang handelt." Mit der verwendeten Interview-Methode sei dies nicht herauszubekommen. Es könnte genauso gut umgekehrt sein. "Kompetente Eltern sind wahrscheinlich einfach besser, wenn es darum geht, eine gewisse Routine ins Familienleben zu bringen." Und "pflegeleichte" Kinder fügen sich möglicherweise leichter in familiäre Routinen ein.

Rituale wie das gemeinsame Weihnachtsfest stärkten vor allem bei Jugendlichen das Gefühl des "Geliebtseins", und das festige die Persönlichkeit, fand Fiese in einer weiteren Untersuchung: "Mit wenigen Ausnahmen hat aber keine andere Studie zwischen täglichen Routinen und den eher auf Bedeutung abzielenden Ritualen unterschieden", kritisiert die Psychologin ihre Kollegen. Während das tägliche gemeinsame Abendessen eher zu den schlicht notwendigen Verrichtungen im Alltag gehört und eine oberflächliche und kurzfristige Bindung erzeuge, seien Familienfeste wesentlich symbol- und bedeutungsbeladener, was zudem die Generationen miteinander verbinde. Fieses Fazit: "Routinen und Rituale sind von zentraler Bedeutung für das Familienleben." Ihre Erforschung sei aber auch nach mehr als 50 Jahren noch ziemlich "unreif".

Marcus Anhäuser



http://213.187.75.204/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?cnt=68294

Warum nur Französisch?

Mehr Begeisterung für Vielsprachigkeit und Lust beim Lernen können nicht schaden / Von Eduard A. Wiecha

Mehrsprachig müssten die Europäer werden, in möglichst großer Zahl. Und dafür sollten sie, so oft es geht, die Nachbarn jenseits der Grenzen besuchen. Eudard A. Wiecha, Professor für französische Sprache und französischsprachige Kultur an der Fachhochschule München, wirbt für das spielerische und enthusiastische Erlernen von Fremdsprachen. Wiecha kritisiert, das noch zu oft in der Schule Formendrill, Vokabelabfragen und Textzerpflücken den Spaß am Sprachenlernen vergällen. Die FR dokumentiert Wiechas Plädoyer für mehr Leichtigkeit - quasi eine unkonventionelle Antwort auf die PISA-Studie.


Fast geschenkt

Zugegeben, ich gehöre zu den Glücklichen, die keinen Unterschied zwischen Hobby und Beruf machen. In der Schule schon faszinierten mich die Fremdsprachen, wie sie gerade kamen: zuerst Latein. Ein Puzzlespiel aus Formen und Funktionen, Helden und Rhetoren. Damit mauserte sich das kindliche Gehirn zur Agentur für die Entschlüsselung des Fremden. Dann Englisch. Zuhören, Verstehen, Reden. Smalltalk mit amerikanischen Touristen, die die "Romantische Straße" befuhren. BBC-News, Zeitungen, Beatles, Folksongs aus Irland. Französisch begegnete ich spät, am Ende der Mittelstufe. Wahlweise nahm ich gleich noch etwas Spanisch und Russisch mit.

Die Weichen stellte der Zufall. Ein Schulfreund hatte Platz im angegrauten Opel Rekord. Drei Wochen Tour de France, mit 80 Sachen. Endlos gerade Nationalstraßen, platanengesäumt, jede Menge "Rappel"-Schilder, alle zehn Minuten ein Kreisverkehr. Und Weinberge, so weit das Auge reicht, zwischen Champagne und Loire. Grandiose Landschaften an der bretonischen Küste. Vor den Pyrenäen war das Meer warm und blau. In den Kleinstädten stand die Zeit still. Eine mittelalterliche Kirche, ein Platz, Café-Terrassen, Boulangerie und Epicerie. Baguette mit Camembert zu einem Schluck Roten: unser täglich Brot. Das Schwätzchen mit der Madame am Ladentisch: Bonjour, Ca va? Wie gut es tut, sagen zu können, was du suchst, und die Antwort ungefähr zu verstehen!

Im Jahr darauf ging es mit einer Landjugendgruppe ins verschwisterte Dorf am Atlantik. Meine Bauernfamilie, vielköpfig und agil, machte keine Umstände. Ich gehörte dazu. Besuche auf dem Markt und in der Hühnerfarm der Tante, Muschelsammeln am Felsstrand, stundenlange Abendmahlzeiten. Da floss der Muscadet, wogten Geschichten und Späße vielstimmig hin und her, schmiedete man Pläne, schimpfte auf Politiker. Das schöne Gefühl: Du redest mit, du bist nicht fremd!

Französisch an der Universität, das war die Welt der Literatur, von Montaigne bis Marguerite Duras, von Villon bis Brassens. Das waren die Reden der Revolutionäre, die Manifeste der Künstler, die Theorien der Linguisten. Die Sprache des gewöhnlichen Lebens spielte kaum eine Rolle. Meist dozierten die Professoren auf Deutsch. Wer nicht wollte, machte den Mund nicht auf. Mein Bestreben war, möglichst oft im Lande selbst zu sein. Im Sommer betreute ich französische Kinder in Ferienlagern. Zehn Monate hindurch machte ich Konversation mit Schülern in Burgund. Nach dem Examen durchforstete ich mehrere Jahre deutsche Sprech-, Schreib- und Denkweisen mit Studenten und Studentinnen einer Hochschule im Süden. Morgens stand der Hund der Vermieter vor der Tür. Zu Mittag saß ich bei ihnen am Tisch. Zwischen den Gängen stimmte ich in die Kommentare zu den Fernsehnachrichten ein.

Am Abend traf man sich unter Freunden am Strand. Oder wir gingen ins Kino. So bekam ich die andere Sprache fast geschenkt. Als ich zurückfuhr, war das Auto voll mit Büchern, Bildern, Schallplatten, Adressen. Ich brauchte den Schatz nur zu öffnen, um ihn weiterzugeben, Stück für Stück.

Lamento

Nicht immer läuft es so. Bis heute, 20 Jahre danach, müssen angehende Sprachen-Pädagogen keinerlei Auslandsaufenthalt vorweisen. Wie sollen sie Rede- und Lebenserfahrung vermitteln, ohne sie vor Ort gesammelt zu haben, ein paar Monate lang wenigstens? Woher erhält ihr Tun den emotionalen Drive, aus dem Glaubwürdigkeit wächst? Wie verhindern sie, dass "ihre" Sprache mehr wird als öder Lernstoff, vorgekaut ohne Maß und Ziel? Die Jungen ergreifen sicher die Initiative auf eigene Faust und Kosten. Ihre Aussicht auf Anstellung wächst dabei nicht. Im Gegenteil: Das Laufbahnrecht bestraft derart "vergeudete" Zeit.

Ein wenig erklärt dies, warum sich "einsprachiger" Unterricht hier zu Lande kaum eingebürgert hat. Auch, warum die geballte Saat der Didaktik und der Verlage so spärlich sprießt. Jede Menge alternativer Methoden - "Natural Approach", "Lernen durch Lehren", "Suggestopädie", "Psychodramaturgie"...

Immer bessere Vorlagen, Audio, Video und interaktiv, die den direkten Zugang zum Telefonieren, zum Präsentieren, zum Restaurantbesuch weisen. Klägliche Resultate, en gros. An dem simplen Ziel, Kontakt einzufädeln mit Leuten wie du und ich, tuckert der Zug vorbei. Auf vermeintlich sicherer Schiene wälzt er Geröll vor sich her: Formendrill, Vokabelabfragen, Textzerpflücken, mit Diktat, Übersetzung, Fehlerzählen im Geleit. Der Blick auf Wesentliches bleibt verbaut. Das wäre es: Hören im Original, ohne gleich alles zu "entschlüsseln", Reden nach Herzenslust, methodische Tricks fürs Lernen, Schlaglichter auf das bunte Leben in der anderen Kultur. Non scholae, sed vitae...

Nur so macht es Lust auf mehr. Weg mit der Flut schriftlicher Arbeiten, die im südlichsten Freistaat in den Zeugnissen gar mit 2:1 zu Buche schlagen. Fortschritte beim Hören und Reden lassen sich elektronisch aufzeichnen, vergleichen. Noten ohne Drohgebärde, Phasen intensiven Eintauchens in die Sprache statt jahrelanger "Streukurse": Wer blockiert, sind die Behörden.

Die Lehrer für Auslandspraktika zu ermuntern, mittels materieller Anreize natürlich, das wäre der wahre Jungbrunnen. Menschliche wie sachliche Vorbilder könnten sie allesamt sein. Dafür aufhören mit Verwalten, Selektieren, Sanktionieren.


Lokaltermin Bildungs"wesen": Fünfte Klasse Gymnasium. Endlich Englisch! Alle sind gespannt. Ein Mitschüler kommt gerade aus Irland zurück. Dort ist er aufgewachsen, die Sprache kann er schon gut. Er ist der "Star". Dann die Ernüchterung: Die Lehrerin verbietet ihm das Reden. Sein "schrecklicher Akzent" bedeute Ansteckungsgefahr. Zwei Jahre später. Französisch geht los. Nach der ersten Woche sind die Eltern neugierig. Originalton Sohn: "Gesprochen haben wir noch nicht. Die Lehrerin redet Deutsch. Weil wir ja noch nichts können!" Fortbildungstagung eines Fremdsprachenverbandes.
Ich mache den Vorschlag, Gruppen zu bilden und die Diskussion in der jeweiligen Berufssprache zu führen. Knapp die Hälfte der Anwesenden verlässt den Raum. Zuvor habe ich 200 FH-Studierende befragt. Betriebswirte, Sozialpädagogen, Ingenieure in spe. Schulerfahrungen? Ein einziges Lamento: kaum Gelegenheit, die Fremdsprache zu benutzen; Dominanz des Schreibens; buchstäbliches Nichts-tun. Dokumente der Mutlosigkeit.

Verordnete Langeweile, die falschen Schwerpunkte, fehlende Ökonomie, Gleichgültigkeit gegenüber dem Mitteilungsdrang der Schüler - für Englisch mögen solch plumpe Entgleisungen hingehen. Die Sprache der Globalisierung ist ohnehin allgegenwärtig, in Pop-Musik, Medien, Werbung, Freizeitbranche, Computertechnik. Die "Kids" wachsen in sie hinein. Eines Tages handhaben sie sie als ihr zweites Umgangsmedium, wie heute schon junge Holländer, Dänen, Schweden. Für Französisch freilich wirkt das geschilderte Gebaren fatal. Erhärtet es doch das Vorurteil, diese Sprache sei "trocken", schwer und überhaupt ganz anders. Die Folgen demonstriert die Statistik. Eine satte Mehrheit der Gymnasiasten wählt - bundesweit!- Französisch bei erster Gelegenheit ab. Die anderen Anbieter - von Berlitz bis VHS - melden seit Jahren dramatisch rückläufige Kurszahlen.

Ein geringer Trost: Deutsch in Frankreich ergeht es nicht besser. Jahrzehnte als Reservat für besonders Begabte und Spielwiese für formal-geistige Höhenflüge missbraucht, schlägt ihm nun massenhaft Desinteresse ins Gesicht. Schon tun sich, immerhin, Lehrerverbände beider Länder zusammen. Goethe-Institut und Institut Francais haben PR-Aktionen gestartet für beide Sprachen.

Das Wie entscheidet

Alles ist relativ. Verglichen mit Japanisch oder Arabisch sind unsere "Schulsprachen" kinderleicht. Fühle ich mich hingezogen, erkenne ich den Nutzen, so geht alles wie von selbst. Ich opfere Zeit und Energie, organisiere mein Lernen. Es macht ja Spaß. Die großen strukturellen Unterschiede? Sie ebnen sich unterm Strich ein. Englisch mag rasche Erfolgserlebnisse bieten. Die grammatischen Grundmuster wirken hier oft wie verkürztes, schlankeres Deutsch. Aha-Effekte beim Grundwortschatz tun das Ihre: Hi! Come on! Let me see! Der Eintritt in Französisch gestaltet sich kniffliger. Eine Vielzahl von Formen greift ineinander. Mit Regeln, präzise wie ein Uhrwerk. Und jede Menge Ausnahmen.

Faszinierend, aber fremd, das Lautsystem. Musikalisch-polyphon strömt es daher. Andererseits: Die "Probleme" der Schrift halten sich hier und dort die Waage. Beim Wortschatz, auf fortgeschrittener Ebene, und bei der Idiomatik (im rechten Moment den rechten Ausdruck finden...) dreht sich der Spieß vollends um. Untersuchungen belegen: Je höher hinaus es geht, umso schwieriger wird Englisch, umso einfacher fällt Französisch.

Auf das Wie kommt es an. An der Europäischen Schule in Brüssel leben und lernen Abkömmlinge aus mindestens 30 Ländern. Vom Kindergarten bis zum Abitur. Ein internationales Bildungslabor, "draußen" noch kaum beachtet. Dabei tragen die Bundesländer es mit. Ich hatte einem vorwiegend frankophonen Publikum Deutsch zu vermitteln. Schnell merkte ich, dass das Arsenal der Formen meiner Muttersprache, geballt und sinnentleert dargeboten, die Lerner abschreckt: ein Dutzend Pluralformen, vier durchgestylte Fälle in drei Geschlechtern, gekreuzt mit dem Heer der "Begleiter" - Adjektiven, Pronomen, Präpositionen. Zu schweigen von den Konjugationen...

Für den Gebrauch lässt sich das kaum erlernen. Also: die Heckenschere angesetzt! Zurechtgestutzt auf jugendliches Mitteilungsniveau, das Minimum an Situationen, den Kern an Ausdrucksweisen. Mit interessanten Ton- und Videoaufnahmen serviert. Und flugs verlor das Gebäude seine Wucht, wurde luftig und begehbar. Auf der Gegenseite zeitigt die Praxis nicht minder Erfolg. Generationen deutschsprachiger Kinder haben dort spielend Französisch gelernt. Ihr Trumpf: die unmittelbare Anwendung. Die Vorschule bietet Singen, Malen, Tanzen mit der "Madame", welche nicht unbedingt Deutsch versteht. Auf dem Pausenhof wirbeln die Sprachen dann durcheinander. Manche verständigen sich mit Händen und Füßen. Keiner fragt, warum das so ist. Und nach dem Schultag warten Thierry und Marie-Claire, die Nachbarskinder. Am Sportplatz, im Supermarkt, im Comicladen: überall Französisch.

Aus der Ferne bleibt uns nichts übrig, als das Lernen auf das zwischenmenschlich Mögliche hin zu organisieren. Der private Sektor führt es vor. Wenn Manager sich auslandstauglich machen, ohne festes Zeitschema, ohne starre Sitzordnung, ohne fixe Progression. Perfekt - als ließe sich eine Fremdsprache je "beherrschen" - braucht keiner zu sein. Das Interesse bestimmt den Inhalt. Jede Äußerung ist wertvoll. Selbstvertrauen schafft Mut. Erfolg hat, wer sich auf das Geben und Nehmen der Worte einlässt.

"Fehler" behalten ihr Recht. Sie sind Wegweiser der Erfahrung. Also: Drängt niemandem ein Arbeitstempo auf. Beobachtet die Kleinkinder, wie sie, Lösungen erprobend, lustvoll Besitz ergreifen von ihrer ersten Sprache. Sorgt dafür, dass sie später auch das Abenteuer der Kommunikation in einem zweiten (und dritten...) Medium entdecken, nach ihrem Maß. Öffnet die Klassenräume. Blickt hinaus über den Tellerrand der Institutionen. Leitet Begegnungen ein für alle. Brieffreundschaften, Schüler- wie Lehreraustausch, muttersprachliche Studenten als Hilfskräfte, Langzeit-Projekte für Partnerklassen, internationale Lehrpläne für die Sprachen Europas. Hinterfragt die "bewährten" Muster. Reformiert unsere öffentlichen "Anstalten"! Ein Wunschtraum? Nicht so sehr. Machen wir nur Politikern, Bürokraten und auch den Medien Beine!


Basissprache Französisch
Mehrsprachig müssen die Europäer werden, in möglichst hoher Zahl. Die Kultur unseres Kontinents verlangt es. Dem "regionalen" Bedarf kommt es entgegen. Im Maastrichter Vertrag steht es geschrieben. Die Kultusminister wissen es, doch Entscheidendes getan haben sie nicht. Zum Beispiel: Womit beginnen? Der pädagogischen Faustregel nach mit einer komplex gearteten Sprache. Ruhig gegen den Modetrend - Nachhaltigkeit verpflichtet. Harald Weinrichs Formel: "Langue d'origine, X + l'anglais". Mit nach oben offener Skala, versteht sich. Russisch käme gerade im Osten in Frage. Seine unsensible "Abwicklung" dort hat bislang nicht einmal den Verlust spürbar gemacht. Türkisch im Westen? Die Minderheit müsste da wohl erst zur Mehrheit wachsen. Also Französisch. Hinter der Muttersprache platziert, verspricht es nach einigen Jahren aktive Kenntnisse. Wobei Englisch den "Rückstand" mühelos einholt, wie sich in Rheinland-Pfalz erwiesen hat.

Französisch legt den Grundstein für mehr. Seine präzise Architektur fördert Denken par excellence: die Kunst des Platzierens, Verschiebens, Reflektierens der Bausteine. Wie weiland Latein. Von dort stammt es her. Weit öffnet es die Tür zur romanischen Sprachenfamilie. Spanisch, Italienisch, Portugiesisch/ Brasilianisch: Wortschatz wie Konstruktion sind der gallischen Schwester nahe; Schreibung und Aussprache laufen dagegen fast wie von selbst.

Doch keine Angst, Französisch ist allemal "sexy" und beflügelt das Handeln. Sobald man es spricht, kommt es beschwingt und unbekümmert daher. Erstarrte Normen bleiben auf dem Papier zurück. Menschliche Nähe verströmt das Kolorit der Accents von Besancon bis Toulouse. Die Plastizität der Wendungen im Alltagsjargon lässt einen nicht so schnell los. Gesicht, Hände, Körper teilen sich mit. Als Prinzip gilt die Ökonomie der Verständigung. Schulisches Neuland, gewiss. Der Dosierung bedürftig. Vor allem jedoch faszinierend. Mehr und mehr richten die Didaktiker darauf ihren Blick. "Rezepte" für den Unterricht werden folgen, dem guten (?) alten Bon Usage zum Trotz. Ein Trost, dass selbst Franzosen in der Regel die Orthographie gerade so ungefähr "können". Gebannt und ein wenig verlegen folgen sie dem jährlichen Fernseh-Ritual der Diktat-Olympiade. Académie-gesteuert, stehen die höheren Weihen des Citoyen auf dem Spiel. Keinem bundesdeutschen Leistungskurs ist es da verwehrt, sich einzuklinken.

Auf nach Paris! Ruhig mit leichtem Gepäck. Nicht nur die Stein gewordene Geschichte ist hier daheim. Die Stadt gehört heute der jungen, populären Kultur Europas. Afrikanisch-überseeisch aufgemischt. Mit Rap, Rai und Techno à la française. Das Fenster zur Frankophonie. Vier europäische Staaten, fünfzig weltweit. Brüssel, Genf, Montréal, Casablanca, Dakar, Saigon - sie alle atmen französisch.

Partner Frankreich

Es lohnt sich. Nicht umsonst bekennen "Größen" wie Claudia Schiffer oder Steffi Graf: Wir haben gerne Französisch gelernt. Das andere Land brachte ihnen Erfolg. Eine fachsprachliche Aufbaugrammatik Französisch empfiehlt sich so: "International engagierte Unternehmen suchen händeringend nach Personal mit guten, berufsrelevanten Fremdsprachenkenntnissen über das Englische hinaus." In der Tat vermeldet jeder dritte dieser Arbeitgeber für sein Haus Bedarf in Französisch. Kein Wunder. Das Hin und Her der Waren, des Kapitals, der Servicegüter über den Rhein schlägt alle Rekorde. Mehrere tausend Firmen unterhalten Niederlassungen hüben und drüben. Fusionen en masse sind angesagt. DASA-Aérospatiale und Rhône-Poulenc-Hoechst bilden die Spitze des Eisbergs. Hunderttausende Schüler, Lehrlinge, Studenten besuchen Einrichtungen der Gegenseite, machen Praktika, studieren. Gut 2000 Partner-Kommunen stehen in manchmal lockerem, manchmal engem Kontakt.

Nur die Sprachlosigkeit verwundert, und wie sie festgemauert scheint. Zusammenarbeit ist gefragt, von Mensch zu Mensch. Sie setzt Neugier voraus, Interesse am anderen. Weshalb 12 Millionen deutscher Frankreich-Besucher im Jahr außer Einnahmen nicht viel bedeuten. Noch bleiben längere Arbeitsaufenthalte einer "Elite" vorbehalten. Der Strom der Facharbeiter grenznaher Gegenden, zumal aus dem Elsass, fließt eher von West nach Ost. Das könnte sich ändern. Die französische Wirtschaft schickt sich stillschweigend an, die deutsche auf Dauer zu überflügeln. Für unsere Lehrerinnen und Lehrer zeichnet sich die Konkurrenz der Kollegen von "drüben" schon ab. Wie die Chance, selbst dorthin aufzubrechen.

Hinter der Macht der Gewohnheit: das Gewicht der Klischees. Auch der positiven. Franzosen bewundern hartnäckig deutsche "Disziplin" und "Wertarbeit". Deutsche beneiden die Gegenseite um ihren angeblich so lockeren Lebensstil. Das beflügelt den Export, Siemens und BMW zum ersten, Dior und Chablis zum zweiten. "Teutonische" Partner kommen gerne gleich zur Sache. Gewohntermaßen planen, diskutieren, protokollieren sie auch kleinste Schritte. Effektivität über alles. Die "welschen" Geschäftsfreunde interessiert zunächst die Person. Dann laden sie zum Essen.

Vertrauen vor Kontrolle. Bei ihnen hat man die Idee, das Ziel im Auge. Die Kunst der Improvisation. Den Enthusiasmus der vielen, auch den Egoismus der Einzelnen, zähmt ein starker Staat. Hier zu Lande halten die kleinen Einheiten die Dinge in Bewegung, höhlt steter Tropfen den Stein. Das kann nerven; den chaotisch erscheinenden "Reform"-Debatten sei's geklagt. Es trägt freilich auch Früchte. 16 Bundesländer, noch mehr Wirtschaftszentren, zahllose kommunale Initiativen, das Netz der sich selbst und der "Sache" verpflichteten Fachleute.

Wer hat da nun Recht? Eine interkulturelle Vergleichsanalyse kommt zu dem Schluss: "Die Erfolg versprechende Mischung: französische Kreativität und Unbefangenheit (Risikofreude) und deutsche Gründlichkeit und Perfektionsstreben (Sicherheitsdenken)." Gemeinsamkeit also. Der Weg führt durch die Mitte. Den echten (Neu-) Anfang aber macht immer die Sprache.



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Dokument erstellt am 26.12.2002 um 16:40:01 Uhr
Erscheinungsdatum 27.12.2002
 

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